Die Ottakringerstraße
Die Ottakringerstrasse beginnt beim Gürtel drinnen und endet bei der Vorortelinie draußen. Als ich klein war, wusste ich das nicht. Für mich war die Ottakringerstraße das zwei Straßenbahn-Haltestellen lange Stück vom Gürtel bis zur Kalvarienberggasse. Die Häuser auf der einen Straßenseite gehören zu Hernals, die Häuser auf der anderen Straßenseite gehören zu Ottakring. Die Grenze zwischen den beiden Bezirken dachte ich mir genau in der Straßenmitte. Es war kurz nach dem Krieg, und Autos fuhren nur wenige. Man konnte die Straße — genau in der Mitte — entlanggehen. Mit einem Fuß in Ottakring und einem in Hernals. Der Hernalserfuss war der Heimatfuß. Ich ging in der Erwartung eines besonderen Gefühls im Heimatfuß. Dieses Gefühl stellte sich nie ein, aber oft bimmelte hinter mir eine Straßenbahn und scheuchte mich auf den Gehsteig, und der Fahrer brüllte zur Tür hinaus — damals fuhren die Straßenbahnen mit offenen Türen —, dass ich ein total vertrotteltes Kind sei.
Außer mir gab es noch eine, die auch oft in der Mitte der Straße ging. Sie hatte lange, weiße Haare, ein zerknittertes Affengesicht und krumme Beine. Sie hatte einen großen braunen Schnürschuh am linken Fuß und einen kleinen schwarzen Halbschuh am rechten. Sie schob einen zerlöcherten Kinderwagen. Manchmal waren leere Flaschen drinnen. Meistens war er leer. Ich wollte gern mit der reden, aber sie sagte nur: „Lass mi mit Ruh!" Als ich dann merkte, dass die auch auf anderen Straßen in der Mitte ging, ließ ich sie in Ruhe.
An die Ottakringerseite der Straße kann ich mich nicht mehr erinnern. Sie ging mich nichts an. In Ottakring hatte ich weder Feinde noch Freunde. Wichtig war nur die Hernalserseite. Auf der entging mir nichts.
Es gab vier Sorten Häuser:
dreistöckige Zinskasernen mit großen Fenstern und abgeblättertem grauem Verputz und zerschlagenen Stuckverzierungen. Die mochte ich nicht. Am meisten störten mich ihre nackten, die anderen Häuser überragenden Feuermauern mit den Klofensterstreifen in der Mitte.
Die zweistöckigen Häuser — meistens mit ein paar Steinstufen zum Haustor hin und großen gelben Fliesen hinter dem Haustor — waren mir am vertrautesten. Ich Wohnte in so einem Haus. Wenn ich unterwegs war und Durst hatte und bei einer Gangbassena Wasser trinken wollte, suchte ich mir dazu eins dieser Häuser aus. Am liebsten hatte ich das Haus mit der bunten Oberlichte über dem Haustor. Die Oberlichte war in achtzehn Quadrate unterteilt, sechs aus lila Glas, sechs aus rotem Glas und sechs aus Milchglas mit eingeätzten Blumenmustern.
Die einstöckigen Häuser waren so ziemlich alle nach demselben Plan gebaut. Breite Einfahrt in der Mitte, auf der einen Seite der Einfahrt ein Geschäftslokal, auf der anderen Seite ein Magazin und die Hausmeisterwohnung. Und der ganze erste Stock war die Wohnung des Hausbesitzers, dem auch das Geschäft unten gehörte. Auf diese Häuser war ich neidisch. Ihre blankgeputzten Fenster mit den Spitzenvorhängen dahinter und ihre festverschlossenen Haustüren schienen mir eine Garantie für Wohlstand und Sicherheit und Zufriedenheit.
Dann gab es noch die Ruinen, Auf meinem Stück Ottakringerstraße waren es drei. Zwei, beim Gürtel unten, interessierten mich nicht. Das waren nur riesige Schutthaufen, aus denen Balken ragten. Die andere, bei der Steinergasse oben, liebte ich. Sie erinnerte mich an das Puppenhaus, das ich früher, vor der Bombe, gehabt hatte. Im ersten Stock, in einem der klaffenden Zimmer, an die Mauer gedrückt, mit kaum einem Meter Fußboden davor, stand ein altdeutscher Kasten. Ich war überzeugt, dass sehr wertvolle Dinge drin waren. Manchmal stieg ich in die Ruine ein. Dann hatte ich Angst, die Puppenmauern könnten über mir zusammenstürzen. Aber der Genuss, an den Puppenhauswänden im Parterre herumzukratzen, war größer als die Angst. An den Wänden waren unzählige Schichten von Malerei übereinander. Mit Geduld, Fingerspitzengefühl und einer großen Haarklammer konnte man eine Schicht nach der anderen freilegen. Hinter schweinsrosa Rosen auf gelbem Grund kamen himmelmutter-manterl-blaue Streifen heraus und dahinter gurkensalatgrün Marmoriertes und veilchenviolette Arabesken. Traurig war ich jedesmal, wenn es regnete, wenn sich meine freigelegten Musterflecken dunkel färbten und nach dem Regen dann, blasser als vorher, wieder auftrockneten.
Zu den Häusern gehören in meiner Erinnerung Leute. Auch zu den Ruinen. Bei der Puppenhausruine war es der schielende Otti. Er stocherte dort jeden Tag im Schutt herum und suchte nach Sachen. Ich war die einzige, die er nicht aus der Ruine vertrieb. Er war mein Freund. Aber geredet haben wir nie miteinander.
Mein Freund war der Hansi. Er hockte immer auf den Stufen vor dem Haus mit der bunten Oberlichte. An vielen Tagen hatte er den bösen Blick. Da durfte man ihn nicht anreden, sonst schrie er: „Schleich di" und schoss mit seiner Steinschleuder hinter einem her.
Die Fleischhauerin vom einstöckigen Haus stand immer in der offenen Ladentür und glotzte verwundert, wenn ich die Straße — genau in der Mitte — entlangmarschierte. Ihre Nase, ihre Ohren, ihre Finger und ihre dicken Hängewangen waren lila abgefroren.
Und gleich daneben war der Zwickl. Wenn es warm war, saß er auf einem Küchenstockerl in der Tornische der Zinskaserne, in der er Hausmeister war. Er hatte einen einzigen, großen, gelben Zahn. Oben in der Mitte. Der Zahn war beweglich. Mit einem sanften Zungendruck konnte er ihn wie einen Tschick zwischen die Lippen schieben, Und dann gabs noch die Wondraschek im Blumengeschäft. Außer den Blumen waren noch ein Hund, etliche Katzen und eine Kröte im Laden. Die Kröte war meistens im Eiskasten. Und nichts war schöner,
als wenn die Gehilfin der Wondraschek den Eiskasten aufmachte, um Rosen herauszuholen, und die Kröte mit lang ausgestreckten Vorder und Hinterbeinen in einem enormen Sprung über Kranze, Bouquets und Lavors voll Himmelschlüssel aufs Pult sprang. Die Wondraschek wog über einen Zentner, obwohl sie sehr klein war, und konnte nicht gehen. Am Morgen schleppte sie die Gehilfin vom Hinterzimmerbett in denLaden hinaus, am Abend schleppte sie sie zurück. Vor einer halben Ewigkeit hatte sich die Wondraschek das Bein gebrochen. Der Gipsfuß war ihr unangenehm gewesen, sie hatte ihn mit einer Zange und einem Hammer entfernt. Seither wartete sie, Kränze bindend, darauf, dass „der Haxn von allanich guad wiad“. Ich besuchte die Wondraschek oft, weil ich ihre tiefe, heisere Stimme mochte, die einen ganz zärtlichen Klang bekam, wenn sie unanständige Worte sagte. „Na, glans Oaschal, siaß Dreckscheißal, wia gehts da denn?"
Meine Ottakringerstraße gibt es nicht mehr. Langsam, Jahr für Jahr, haben sie ein Stück davon kaputtgemacht. Und immer ist einer dabei draufgegangen, der in meiner Erinnerung zur Ottakringerstraße gehört. Die Alte mit dem Kinderwagen und dem zerknitterten Affengesicht war die erste. Sie ist totgefahren worden. Sie hat nicht — so wie ich — kapiert, daß der Verkehr anders geworden ist, dass keiner mehr mit einem Fuß in Ottakring und einem in Hernals gehen darf.
Den schielenden Otti haben sie ins Heim gesteckt. Wie nämlich die Ruine abgerissen wurde und der Schutt weggeräumt war, haben sieeine Plakatwand aufgestellt. Über die hat der Otti nicht drüber können. Und außerdem war hinter der Plakatwand nichts mehr zu finden. Also ist der Otti zu Haus geblieben. Und da ist den Hausparteien aufgefallen, dass es nicht gut ist, wenn ein Halbwüchsiger in einer Wohnung sitzt, in der seine Mutter der Prostitution nachgeht.
Das Haus mit der bunten Oberlichte haben sie ein Jahr später abgerissen. Es ist baufällig geworden, weil der Hausherr jeden Abend auf den Dachboden gestiegen ist und einen Dachziegel entfernt hat; damit es reinregnet. Damit er den Grund an eine Baufirma verkaufen kann. Die Eltern vom Hansi mit der Steinschleuder und dem bösen Blick haben eine Gemeindewohnung bekommen. Am anderen Ende der Stadt. „Die haben Glück", haben die Leute gesagt. Aber viel Glück kann das nicht gewesen sein. Den ganzen Sommer über ist der Hansi vom anderen Ende der Stadt mit der Straßenbahn zur Ottakringerstraße gefahren. Vor irgendeinem Haus ist er dann gehockt. Den ganzen Tag lang. Und den bösen Blick hat er immer gehabt. Im Winter drauf war er dann weg. Angeblich ist er paar Jahre später bei einem Einbruch von einem Nachtwächter erschossen worden. Das Haus von der Fleischhauerin hat es noch lange gegeben. Weil sie stur war. Sie hat nicht verkauft. Auch nicht, wie sie schon sehr alt war und ihr Geschäft zugesperrt war. Aber am Tag ihrer Beerdigung ist der Verkaufs-Vorvertrag unterzeichnet worden. Das Haus von der Wondraschek ist ehrlich zerfallen. Sie hat für ihr Haus nicht mehr getan als für ihren Fuß. Wie sie die Alte im breiten Spezialsarg weggetragen haben, war es nur mehr eine Ruine. Jetzt ist ein Auto-Gebrauchthandel dort. Und im Dezember verkaufen sie dänische Tannen.
Am Fleischhauergrund und am Grund, wo das Haus mit der schönen Oberlichte im Tor war, und dort, wo meine Puppenhausruine war, dort stehen jetzt Neubauten. Mit Balkons. Benützen kann man die nicht. Der Verkehr ist zu laut. Nicht einmal Wäsche kann man aufbangen. Die wird dreckig.
Die Zinskaserne vom Zwickl mit dem beweglichen Zahn ist erst heuer abgerissen worden. Der Hausherr hat sie von Gastarbeitern so lang „abwohnen lassen", bis sie „reif" war. Der Zwickl ist nach Lainz gekommen. Nach drei Wochen ist er dort gestorben. Was kein Wunder war. Schließlich war er fast neunzig.
Es gibt noch ein paar alte Häuser auf meinem Stück Ottakringerstraße. Im Vorübergehen merkt man das kaum, well man an den neuen Geschäftsportalen vorbeigeht. Alle ebenerdigen Fenster sind verschwunden.
Nur die Wirtshäuser — an jeder Ecke eins — gibt es alle noch, weil das keine Gegend für Bankfilialen ist. Und die Lackfabrik verstinkt noch immer, wenn der Wind ungünstig ist, die ganze Gegend.
Über die Leute, die zu den neuen Häusern gehören, weiß ich nicht Bescheid. Sie wohnen alle nach innen. Draußen gehen sie so herum, als ob sie auch ganz woanders wohnen könnten.
Ich hoffe auf die Gastarbeiter. Und ihre Kinder. Ich sehe kleine schwarzhaarige Knirpse riesige Netze voll Bierflaschen schleppen und finde nicht viel Unterschied zu uns — seinerzeit —, wenn wir am Abend mit den vollen Bierkrügeln vom Wirten heimgingen.
Und vergangenen Sommer hat sich die erste uralte Mama — mit einem schwarzen Kopftuch — auf ein Kuchenstockerl in die Haustornische gesetzt. Ob der schielende Otti im Schutt grub oder der kleine Milan in den Koloniakübeln wühlt, sage ich mir, kommt aufs gleiche heraus. Freundschaften und Feindschaften sind auf der Ottakringerstraße wieder erkennbar. Häuser und Personen lassen sich einander wieder zuordnen.
Aber die Grenze, genau in der Straßenmitte, die ist denen gleich. Sie rennen hin und her, trotz des Verkehrs, raufen in Ottakring genauso wie in Hernals. Fragen in Ottakring genauso aus Spaß „Bitte, wie spät ist es“ wie in Hernals. Holen sogar das Bier und die Milch und das viele Brot von drüben. Heimatfuß haben die keinen.
Familienidylle
Ich kenne etliche Frauen, die sind so selbstlos und aufopfernd, dass sie sich rein gar nichts gönnen! Nicht einmal einen Sitzplatz bei Tisch gönnen sie sich. Und einen Teller beanspruchen sie auch nicht. Sie servieren der Familie die Mahlzeiten, als wären sie schlecht behandelte Dienstmädchen aus dem vorigen Jahrhundert.
Während der Mann und die Kinder das Gemüsesupperl schlürfen, stehen diese Frauen in der Küche und backen die Schnitzerl aus, denn Schnitzerl sollen ganz, ganz resch und natürlich heiß auf den Tisch kommen.
Und wenn dann die Lieben über die Schnitzerl herfallen, schlagen diese Frauen die Vanillesoße auf und holen die Dampfnudeln aus dem Rohr.
Auch Vanillesoße und Dampfnudeln sind frisch am besten!
Zwischen dem Auftragen der nahrhaften Köstlichkeiten und dem Abtragen des verdreckten Geschirrs stopfen diese Frauen schnell ein paar vermischte Bissen in den Mund.
Die gute Hausfrau & Mutter delektiert sich halt nicht an einem Mittagessen in Ruhe, sondern an den zufriedenen Rülpsern ihrer Lieben.
Nur hat die Sache einen Haken! Oft wird die aufopfernde selbstlose Art gar nicht besonders von der Familie geschätzt. Man rülpst zwar zufrieden, aber man schaut auch vorwurfsvoll.
„Dauernd rennst du hin und her", sagt der Mann. „Kannst du dich nicht endlich hersetzen! Da schmeckt es einem doch gar nicht!"
Da lächelt dann die aufopfernde Mutter & Hausfrau, wischt sich die schweißnasse Stirn, murmelt: „Ich muss die Schnitzel umdrehen" und eilt mit einem Stoß dreckiger Suppenteller der Küche zu.
Seufzend und kopfschüttelnd schaut ihr der Mann nach, und der halberwachsene Sohn streckt die Beine unter den Tisch, lümmelt sich weit zurück und spricht tröstend zum Vater:
„Lass sie doch! Wenn sie sich nicht aufopfern kann, hat sie keinen Lustgewinn!" Worauf die ebenfalls halberwachsene Tochter sagt:
„Aber dass sie uns auf diese Art andauernd Schuldgefühle einimpft, ist ihr ja wurscht!"
Die aufopfernde Hausfrau & Mutter hört dieses Gespräch beim Hin- und Hereilen natürlich mit an. Aber sie nimmt es gelassen zur Kenntnis.
Zur feinen Sorte der Aufopferung gehört es nämlich, dass man sich keinen Dank erwartet!