Drei Fragen hinter der Tür

Als Hagedorn mit den Baldriantropfen anrückte, saßen die drei einträchtig beisammen. Sie einte die Besorgnis, er könne hinter ihr Geheimnis kommen.

«Tante Julchen ist auch da!» sagte er erfreut. «Sind die Koffer ausgepackt? Und wie gefällt Ihnen mein Freund Eduard?»

«Vorzüglich!» antwortete sie aus tiefster Seele.

«Eduard, hier sind die Tropfen», meinte Hagedorn.

«Was für Tropfen?» fragte Schulze.

«Die Baldriantropfen natürlich!» erklärte Fritz. «Menschenskind, ich denke, du hast Magenschmerzen?»

«Ach richtig», murmelte der andere, und dann mußte er wohl oder übel Baldriantropfen einnehmen. Mittels eines Kaffeelöffels. Hagedorn bestand darauf.

Hilde freute sich über die Gesichter, die ihr Vater schnitt. Tante Julchen, die nicht begriffen hatte, daß es sich um erfundene Magenschmerzen handelte, war schrecklich aufgeregt und wollte dem Kranken einen heißen Wickel machen. Schulze schwor, daß es ihm bereits viel, viel besser gehe.

«Das kennen wir!» sagte Tante Julchen mißtrauisch. «Das machen Sie immer so!»

Der Geheimrat und seine Tochter zuckten vor Schreck zusammen.

«Das machen sie immer so, die Männer!» fuhr die Tante geistesgegenwärtig fort. «Sie geben nie zu, daß ihnen etwas fehlt.»

Die Situation war gerettet. Frau Kunkels Gesicht grenzte an Größenwahn. So geschickt hatte sie sich noch nie aus der Affäre gezogen.

Ja, und dann kehrte Herr Kesselhuth von der vierten Skistunde zurück. Er hinkte aus Leibeskräften. Denn er war auf der Übungswiese versehentlich in den Graswander Toni hineingefahren. Und beide waren, als unentwirrbare Knäuel, in einem Wildbach gelandet.

Besonders tiefen Eindruck hatten dem grauhaarigen Skischüler die zahllosen ordinären Redensarten gemacht, mit denen er anschließend vom Herrn Anton Graswander belegt worden war. Sie waren auf keine Kuhhaut gegangen.

Onkel Folter erkundigte sich teilnahmsvoll, wie der Unglücksfall verlaufen war, und empfahl eine Firma, die den zerrissenen Sportanzug wieder ins Geschick bringen würde.

Kesselhuth sah sich suchend um.

«Herr Doktor Hagedorn sitzt in der Halle», sagte der Portier.

Kesselhuth humpelte weiter. Er entdeckte den Tisch, an dem Schulze und Hagedorn saßen. Als er, nur noch wenige Schritte entfernt, sah, wer die beiden Frauen waren, begann er leise mit den Zähnen zu klappern. Er fuhr sich entsetzt über die Augen. Das war doch wohl nicht möglich! Er blickte noch einmal hin. Dann wurde ihm übel. Er wäre für sein Leben gern im Boden versunken. Doch es gab weit und breit keine Versenkung. Er humpelte hinüber. Tante Julchen grinste schadenfroh.

«Was ist denn mit Ihnen geschehen?» fragte Schulze.

«Es ist nicht sehr gefährlich», meinte Kesselhuth. «Es gab einen Zusammenstoß. Das ist alles. Ich habe aber das Gefühl, daß ich keinen Sport mehr treiben werde.»

Tante Julchen sah Herrn Hagedorn hypnotisch an. «Wollen Sie uns nicht vorstellen?»

Der junge Mann machte die Herrschaften miteinander bekannt. Händedrücke wurden getauscht. Es ging sehr förmlich zu. Kesselhuth wagte nicht zu sprechen. Jede Bemerkung konnte grundverkehrt sein.

«Sie sind bestimmt der Herr, dem die Schiff -fahrtslinie gehört?» fragte Hilde.

«So ist es», sagte Kesselhuth betreten.

«Was gehört ihm?» fragte Tante Julchen und hielt, als sei sie schwerhörig, eine Hand hinters Ohr.

«Eine Schiffahrtslinie», meinte Herr Schulze streng. «Sogar eine sehr große Linie! Nicht wahr?»

Kesselhuth war nervös. «Ich muß mich umziehen. Sonst hole ich mir den Schnupfen.» Er nieste dreimal. «Darf ich die Anwesenden bitten, nach dem Abendbrot in der Bar meine Gäste zu sein?»

«Genehmigt», sagte Schulze. «Wir wollen sehen, wieviel Tante Julchen verträgt.»

Sie plusterte sich. «Ich trinke euch alle unter den Tisch. Als meine Schwester 1905 Hochzeit hatte, habe ich zwei Flaschen Johannisbeerwein ganz allein ausgetrunken.»

«Hoffentlich kriegen Sie Ihren Schwips diesmal etwas schneller», meinte Kesselhuth, «sonst wird mir der Spaß zu teuer.» Dann hinkte er zur Treppe. Er glich einer geschlagenen Armee.

Hagedorn verzehrte Hilde mittlerweile mit seinen Blicken. Plötzlich lachte er auf. «Es ist zwar unwichtig — aber ich weiß Ihren Familiennamen noch gar nicht.»

«Nein?» fragte sie. «Komisch, was? Stellen Sie sich vor: Ich heiße genau so wie Ihr Freund Eduard!»

«Eduard», sagte der junge Mann, «wie heißt du? Ach so, entschuldige, ich glaube, bei mir ist heute ein Schräubchen locker. Sie heißen Schulze?»

«Seit wann siezt du mich denn wieder?» fragte Eduard.

«Er meint doch mich», erklärte Hilde. «Es stimmt schon, Herr Doktor. Ich heiße genau wie Ihr Freund.»

«Nein, so ein Zufall!» rief Hagedorn.

«Schulze ist ein sehr verbreiteter Name», bemerkte Eduard und musterte Hilde ärgerlich.

«Trotzdem, trotzdem», meinte Fritz gefühlvoll. «Dieser Zufall berührt mich merkwürdig. Es ist, als stecke das Schicksal dahinter. Vielleicht seid ihr miteinander verwandt und wißt es gar nicht?»

An dieser Gesprächsstelle bekam Tante Julchen einen Erstickungsanfall und mußte von Fräulein Hildegard schleunigst aufs Zimmer transportiert werden. Auf der Treppe sagte sie erschöpft: «Das ist die reinste Pferdekur. Konnten Sie sich denn keinen anderen Namen aussuchen?»

Hilde schüttelte energisch mit dem Kopf. «Ich konnte ihn nicht belügen. Daß ich genau so wie sein Freund Eduard heiße, ist doch wahr.»

*

«Ist das Mädchen nicht wundervoll?» fragte Fritz.

«Doch», meinte Eduard mürrisch.

«Wenn das mal gut geht», sagte die Kunkel.

«Hast du gesehen, daß sie, wenn sie lacht, ein Grübchen hat?»

«Ja.»

«Und in den Pupillen hat sie golden schimmernde Pünktchen.»

«Das ist mir an ihr noch nie aufgefallen», sagte Schulze.

«Für wie alt hältst du sie eigentlich?»

«Im August wird sie einundzwanzig Jahre.»

Fritz lachte. «Laß deine Witze, Eduard! Aber ungefähr wird es schon stimmen. Findest du nicht auch, daß ich sie heiraten muß?»

«Na ja», sagte Schulze. «Meinetwegen.» Er bemerkte endlich, dass er faselte, und nahm sich zusammen. «Vielleicht hat sie keinen Pfennig Geld», warf er ein.

«Höchstwahrscheinlich sogar», sagte Hagedorn. «Ich habe ja auch keins! Ich werde sie morgen fragen, ob sie meine Frau werden will. Dann können wir uns umgehend verloben. Und sobald ich eine Anstellung gefunden habe, wird geheiratet. Willst du Trauzeuge sein?»

«Das ist doch selbstverständlich!» erklärte Schulze.

Hagedorn begann zu schwärmen. «Ich bin wie neugeboren. Menschenskind, werde ich jetzt aber bei den Berliner Firmen herumsausen! Ich werde sämtliche Generaldirektoren in Grund und Boden quatschen. Sie werden gar nicht auf die Idee kommen, mich hinauszuwerfen.»

«Vielleicht klappt es mit den Toblerwerken.»

«Wer weiß», sagte Fritz skeptisch. «Mit Empfehlungen habe ich noch nie Glück gehabt. Nein, das machen wir anders. Wenn wir in Berlin sind, rücken wir dem ollen Tobler auf die Bude! Hast du 'ne Ahnung, wo er wohnt?»

«Irgendwo im Grunewald.»

«Die Adresse werden wir schon herauskriegen. Wir gehen ganz einfach hin, klingeln, schieben das Dienstmädchen beiseite, setzen uns in seine gute Stube und gehen nicht eher weg, bis er uns angestellt hat. Schlimmstenfalls übernachten wir dort. Ein paar Stullen nehmen wir mit. Ist das gut?»

«Eine grandiose Idee», sagte Schulze. «Ich freue mich schon jetzt auf Toblers Gesicht. Wir zwei werden's dem ollen Knaben schon besorgen, was?»

«Worauf er sich verlassen kann!» bemerkte Hagedorn begeistert. «Herr Geheimrat - werden wir sagen - Sie besitzen zwar viele Millionen und verdienen jedes Jahr noch ein paar dazu, und somit ist es eigentlich überflüssig, daß zwei so talentierte Werbefachleute wie wir ausgerechnet zu Ihnen kommen. Wir sollten lieber für Werke arbeiten, denen es schlecht geht, damit sie wieder auf die Beine kommen. Aber, Herr Geheimrat, keine Reklame ist so gut, daß sie nicht mit Kosten verbunden wäre. Wir Propagandisten sind Feldherren; aber unsre Armeen liegen, sauber gebündelt, in Ihrem Geldschrank. Ohne Truppen kann der beste Stratege keine Schlacht gewinnen. Und Reklame ist Krieg! Es gilt, die Köpfe von Millionen Menschen zu erobern. Es gilt, diese Köpfe zum besetzten Gebiet zu machen, Herr Geheimrat Tobler! Man darf die Konkurrenz nicht erst auf dem Markt, man muß sie bereits im Gedankenkreis derer besiegen, die morgen kaufen wollen. Wir Werbefachleute bringen es fertig, aus einem Verkaufsartikel, der dem freien Wettbewerb unterliegt, mit Hilfe der Psychologie einen Monopolartikel zu machen! Geben Sie uns Bewegungsfreiheit, Sire!» Hagedorn holte Atem.

«Großartig!» meinte Schulze. «Bravo, bravo! Wenn uns der Tobler auch dann noch nicht engagiert, verdient er sein Glück überhaupt nicht.»

«Du sagst es», erklärte Fritz pathetisch. «Aber so dämlich wird er ja nicht sein.»

Schulze zuckte zusammen.

«Vielleicht frag ich sie schon heute abend», sagte Fritz entschlossen.

«Wen?»

«Hilde.»

«Was?»

«Ob sie meine Frau werden will.»

«Und wenn sie nicht will?»

«Auf diesen Gedanken bin ich noch gar nicht gekommen», sagte Hagedorn. Er war ehrlich erschrocken. «Mach mir keine Angst, Eduard!»

«Und wenn die Eltern nicht wollen?»

«Vielleicht hat sie keine mehr. Das wäre das bequemste. »

«Sei nicht so roh, Fritz! Na, und wenn der Bräutigam nicht will? Was dann?»

Hagedorn wurde blaß. «Du bist übergeschnappt. Meine Hilde hat doch keinen Bräutigam!»

«Ich verstehe dich nicht», sagte Schulze. «Warum soll so ein hübsches, kluges, lustiges Mädchen, das ein Grübchen hat und in der Iris goldne Pünktchen - warum soll sie denn keinen Bräutigam haben? Meinst du, sie hat dich seit Jahren vorgeahnt?»

Fritz sprang auf. «Ich bringe dich um! Aber zuvor gehe ich auf ihr Zimmer. Bleib sitzen, Eduard! Solltest du recht gehabt haben, werde ich dich nachher aufs Rad flechten. Besorge, bitte, inzwischen ein passendes Rad!» Und dann rannte Doktor Hagedorn treppauf.

Geheimrat Tobler sah ihm lächelnd nach.

Einige Minuten später kam Herr Johann Kesselhuth, bereits im Smoking, in die Halle zurück. Er hinkte noch immer ein bißchen. «Sind Sie mir sehr böse, Herr Geheimrat?» fragte er bekümmert. «Ich hatte Fräulein Hildegard versprochen, jeden Tag über unser Befinden zu berichten. Wer konnte denn ahnen, daß sie hierherkämen? Daran ist aber bloß die Kunkel schuld, dieser Trampel.»

«Schon gut, Johann», sagte Tobler. «Es ist nicht mehr zu ändern. Wissen Sie schon das Neueste?»

«Ist es etwas mit der Wirtschaftskrise?»

«Nicht direkt, Johann. Nächstens gibt es eine Verlobung.»

«Wollen Sie sich wieder verheiraten, Herr Geheimrat?»

«Nein, Sie alter Esel. Doktor Hagedorn wird sich verloben!»

«Mit wem denn, wenn man fragen darf?»

«Mit Fräulein Hilde Schulze!»

Johann begann wie die aufgehende Sonne zu strahlen. «Das ist recht», meinte er. «Da werden wir bald Großvater.»

*

Nach längerem Suchen fand Hagedorn die Zimmer von Tante Julchen und deren Nichte.

«Das gnädige Fräulein hat einundachtzig», sagte das Stubenmädchen und knickste.

Er klopfte.

Er hörte Schritte. «Was gibt's?»

«Ich muß Sie dringend etwas fragen», sagte er gepreßt.

«Das geht nicht», antwortete Hildes Stimme. «Ich bin beim Umziehen.»

«Dann spielen wir drei Fragen hinter der Tür», meinte er.

«Also, schießen Sie los, Herr Doktor!» Sie legte ein Ohr an die Türfüllung, aber sie vernahm nur das laute, aufgeregte Klopfen ihres Herzens. «Wie lautet die erste Frage?»

«Genau wie die zweite», sagte er.

«Und wie ist die zweite Frage?»

«Genau wie die dritte», sagte er.

«Und wie heißt die dritte Frage?»

Er räusperte sich. «Haben Sie schon einen Bräutigam, Hilde?»

Sie schwieg lange. Er schloß die Augen. Dann hörte er, es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, die drei Worte: «Noch nicht, Fritz.»

«Hurra!» rief er, daß es im Korridor wiederhallte. Dann rannte er davon.

Die Tür des Nebenzimmers öffnete sich vorsichtig. Tante Julchen spähte aus dem Spalt und murmelte: «Diese jungen Leute! Wie im Frieden!»

Das sechzehnte Kapitel

Auf dem Wolkenstein

Frau Kunkel hatte sich hinsichtlich ihrer Trinkfestigkeit geirrt. Vielleicht vertrug sie nichts, weil sie seit der Hochzeit ihrer Schwester, Anno 1905, aus der Übung gekommen war. Tatsache ist, daß sie am Tage nach ihrer Ankunft in Bruckbeuren mit einem katastrophalen Ölkopf aufwachte. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern, und ihr Frühstück bestand aus Pyramidon.

«Wie war das eigentlich gestern nacht?» fragte sie. «Habe ich sehr viel Blödsinn geredet?»

«Das wäre nicht so schlimm gewesen», meinte Hilde. «Aber Sie begannen die Wahrheit zu sagen! Deswegen mußte ich ununterbrochen mit Doktor Hagedorn tanzen.»

«Sie Ärmste!»

«Das nun wieder nicht. Aber meine weißen Halbschuhe drückten entsetzlich. Und das durfte ich mir nicht anmerken lassen. Sonst hätte er nicht mehr tanzen wollen, und dann wären sämtliche Geheimnisse, die wir vor ihm haben, herausgekommen.»

«Eines Tages wird er sie ja doch erfahren müssen!»

«Gewiß, meine Dame. Aber weder am ersten Abend, noch von meiner angetrunkenen Tante, die gar nicht meine Tante ist.»

Frau Kunkel rümpfte die Stirn. Sie fühlte sich beleidigt. «Und was geschah dann?» fragte sie unwillig.

«Dann hat Johann Sie ins Bett gebracht.»

«Um des Himmels willen!» rief Tante Julchen. «Das hat mir noch gefehlt!»

«Das hat Johann auch gesagt. Aber es mußte sein. Sie forderten nämlich einen Herrn nach dem ändern zum Tanzen auf. Erst tanzten Sie mit Herrn Spalteholz, einem Fabrikanten aus Gleiwitz; dann mit Mister Sullivan, einem englischen Kolonialoffizier; dann mit Herrn Lenz, einem Kunsthändler aus Köln; schließlich machten Sie sogar vor dem Oberkellner einen Knicks, und da fanden wir's an der Zeit, Sie zu beseitigen.»

Frau Kunkel sah puterrot aus. «Habe ich schlecht getanzt?» fragte sie leise.

«Im Gegenteil. Sie haben die Herren mit Bravour herumgeschwenkt. Man war von Ihnen begeistert.»

Die alte, dicke Dame atmete auf. «Und hat sich der Doktor erklärt?»

«Wollen Sie sich deutlicher ausdrücken?» fragte Hilde.

«Hat er die vierte Frage hinter der Tür gestellt?»

«Ach so! Sie haben gestern nachmittag gehorcht! Nein, die vierte Frage hat er nicht gestellt,»

«Warum denn nicht?»

«Vielleicht war keine Tür da», meinte Fräulein Tobler. «Außerdem waren wir ja nie allein.»

Frau Kunkel sagte: «Ich verstehe Sie ja nicht ganz, Fräulein Hilde.»

«Meines Wissens verlangt das auch kein Mensch.»

«So ein arbeitsloser Doktor, das ist doch kein Mann für Sie. Wenn ich bedenke, was für Partien Sie machen könnten!»

«Werden Sie jetzt nicht ulkig!» sagte Hilde. «Partien machen! Wenn ich das schon höre! Eine Ehe ist doch kein Ausflug!» Sie stand auf, zog die Norwegerjacke an und ging zur Tür. «Kommen Sie! Sie sollen Ihren Willen haben. Wir werden eine Partie machen!»

Tante Julchen schusselte hinterher. Auf der Treppe mußte sie umkehren, weil sie die Tasche vergessen hatte. Als sie in der Halle eintraf, standen die ändern schon vor der Hoteltür und warfen nach dem schönen Kasimir mit Schneebällen.

Sie trat ins Freie und fragte: «Wo soll denn die Reise hingehen?»

Herr Schulze zeigte auf die Berge. Und Hagedorn rief: «Auf den Wolkenstein!»

Tante Julchen schauderte. «Gehen Sie immer voraus!» bat sie. «Ich komme gleich nach. Ich habe die Handschuhe vergessen.»

Herr Kesselhuth lächelte schadenfroh und sagte: «Bleiben Sie nur hier. Ich borge Ihnen meine.»

*

Als Frau Kunkel die Talstation der Drahtseilbahn erblickte, riß sie sich los. Die Männer mußten sie wieder einfangen. Sie strampelte und jammerte, als man sie in den Wagen schob. Es war, als würde Vieh verladen. Die ändern Fahrgäste lachten sie aus.

«Dort hinauf soll ich?» rief sie. «Wenn nun das Seil reißt?»

«Dieserhalb sind zwei Reserveseile da», meinte der Schaffner.

«Und wenn die Reserveseile reißen?»

«Dann steigen wir auf freier Strecke aus», behauptete Hagedorn.

Sie randalierte weiter, bis Hilde sagte: «Liebe Tante, willst du denn, daß wir ändern ohne dich abstürzen?»

Frau Kunkel verstummte augenblicklich, blickte ihre Nichte und Herrn Schulze treuherzig an und schüttelte den Kopf. «Nein», sagte sie sanft wie ein Lamm, «dann will ich auch nicht weiterleben.»

Der Wagen hob sich und glitt aus der Halle. Während der ersten zehn Minuten hielt Tante Julchen die Augen fest zugekniffen. Jedesmal, wenn man, schaukelnd und schwankend, einen der Pfeiler passierte, bewegte sie lautlos die Lippen.

Die Hälfte der Strecke war ungefähr vorüber. Sie hob vorsichtig die Lider und blinzelte durchs Fenster. Man schwebte gerade hoch über einem mit Felszacken, Eissäulen und erstarrten Sturzbächen reichhaltig ausgestatteten Abgrund. Die ändern Fahrgäste schauten andächtig in die grandiose Tiefe. Tante Julchen stöhnte auf, und ihre Zähne schlugen gegeneinander.

«Sie sind aber ein Angsthase!» meinte Schulze ärgerlich.

Sie war empört. «Ich kann Angst haben, so viel ich will! Warum soll ich denn mutig sein? Wie komme ich dazu? Mut ist Geschmackssache. Habe ich recht, meine Herrschaften? Wenn ich General wäre, meinetwegen! Das ist etwas anderes. Aber so? Als meine Schwester und ich noch Kinder waren -meine Schwester ist in Halle an der Saale verheiratet, recht gut sogar, mit einem Oberpostinspektor, Kinder haben sie auch, zwei Stück, die sind nun auch schon lange aus der Schule, was wollte ich eigentlich sagen? Richtig, ich weiß schon wieder - damals waren wir in den großen Ferien auf einem Gut - es gehörte einem entfernten Onkel von

unserem Vater, eigentlich waren sie nur Jugendfreunde und gar nicht verwandt, aber wir Mädchen nannten ihn Onkel, später mußte er das Gut verkaufen, denn die Landwirte haben es sehr schwer, aber das wissen Sie ja alle, vielleicht ist er auch schon tot, wahrscheinlich sogar, denn ich bin heute - natürlich muß er tot sein, denn hundertzwanzig Jahre alt wird doch kein Mensch, es gibt natürlich Ausnahmen, vor allem in der Türkei, habe ich gelesen. Oh, mein Kopf! Ich hätte gestern nacht nicht so viel trinken sollen, ich bin es nicht gewöhnt, außerdem habe ich fremde Herren zum Tanz engagiert. Sie können mich totschlagen, ich habe keine Ahnung mehr, es ist schauderhaft, was einem in so einem Zustande alles passieren kann...»

Bums! Die Drahtseilbahn hielt. Man war an der Gipfelstation angelangt. Die Fahrgäste stiegen laut lachend aus.

«Die alte Frau hat den Höhenrausch», sagte ein Skifahrer.

Tante Julchen und die beiden älteren Herren machten es sich in den Liegestühlen bequem. Willst du nicht erst das Panorama bewundern,

«Ach wo», antwortete ein anderer. «Sie ist noch von gestern abend besoffen!»

*

Tante Julchen und die beiden älteren Herren machten es sich in den Liegestühlen bequem.

«Willst du nicht erst das Panorama bewundern, liebe Tante?» fragte Hilde. Sie stand neben Hagedorn an der Brüstung und blickte in die Runde.

«Laßt mich mit euren Bergen zufrieden!» knurrte die Tante, faltete die Hände überm Kostüm Jackett und sagte: «Ich liege gut.»

«Ich glaube, wir stören», flüsterte Hagedorn.

Schulze hatte scharfe Ohren. «Macht, daß ihr fortkommt!» befahl er. «Aber in einer Stunde seid ihr zurück, sonst raucht's! Kehrt, marsch!» Dann fiel ihm noch etwas ein. «Fritz! Vergiß nicht, daß ich Mutterstelle an dir vertrete!»

«Mein Gedächtnis hat seit gestern sehr gelitten», erklärte der junge Mann. Dann folgte er Hilde. Doch er wurde noch einmal aufgehalten. Aus einem Liegestuhl streckte sich ihm eine Frauenhand entgegen. Es war die Mallebré. «Servus, Herr Doktor!» sagte sie und ließ hierbei ihre schöne Altstimme vibrieren. Sie sah resigniert in seine Augen. «Darf ich Sie mit meinem Mann bekannt machen? Er kam heute morgen an.»

«Welch freudige Überraschung!» meinte Hagedorn und begrüßte einen eleganten Herrn mit schwarzem Schnurrbart und müdem Blick.

«Ich habe schon von Ihnen gehört», sagte Herr von Mallebre. «Sie sind der Gesprächsstoff dieser Saison. Meine Verehrung!»

Hagedorn verabschiedete sich rasch und folgte Hilde, die am Fuß der Holztreppe im Schnee stand und wartete. «Schon wieder eine Anbeterin?» fragte sie.

Er zuckte die Achseln. «Sie wollte von mir gerettet werden», berichtete er. «Sie leidet an chronischer Anpassungsfähigkeit. Da ihre letzten Liebhaber mehr oder weniger oberflächlicher Natur waren, entschloß sie sich, die Verwahrlosung ihres reichen Innenlebens befürchtend, zu einer Radikalkur. Sie wollte sich an einem wertvollen Menschen emporranken. Der wertvolle Mensch sollte ich sein. Aber nun ist ja der Gatte eingetroffen!»

Sie kreuzten den Weg, der zur Station hinunterführte. Der nächste Wagen war eben angekommen. Allen Fahrgästen voran kletterte Frau Casparius ins Freie. Dann steckte sie burschikos die Hände in die Hosentaschen und stiefelte eifrig zum Hotel empor. Hinter ihr, mit zwei Paar Schneeschuhen bewaffnet, ächzte Lenz aus Köln.

Die blonde Bremerin erblickte Hagedorn und Hilde, kriegte böse Augen und rief: «Hallo Doktor! Was machen Ihre kleinen Katzen? Grüßen Sie sie von mir!» Sie verschwand mit Riesenschritten im Hotel.

Hildegard ging schweigend neben Fritz her. Erst als sie, nach einer Wegbiegung, allein waren, fragte sie: «Wollte diese impertinente Person ebenfalls gerettet werden?»

Hagedorns Herz hüpfte. ,Sie ist schon eifersüchtig', dachte er gerührt. Dann sagte er: «Nein. Sie hatte andere Pläne. Sie erklärte, daß wir jung, blühend und gesund seien. So etwas verpflichte. Platonische Vorreden seien auf ein Mindestmaß zu beschränken.»

«Und was wollte sie mit Ihren Katzen?»

«Vor einigen Tagen klopfte es an meiner Tür. Ich rief Herein! weil ich dachte, es sei Eduard. Es war aber Frau Casparius. Sie legte sich auf den kostbaren Perserteppich und spielte mit den Kätzchen. Später kam dann Eduard, und da ging sie wieder. Sie heißt Hortense.»

«Das ist ja allerhand», meinte Hildegard. «Ich glaube, Herr Doktor, auf Sie müßte jemand aufpassen. Sie machen sonst zuviel Dummheiten.»

Er nickte verzweifelt. «So geht es auf keinen Fall weiter. Das heißt: Eduard paßt ja auf mich auf.»

«Eduard?» fragte sie höhnisch. «Eduard ist nicht streng genug. Außerdem ist das keine Aufgabe für einen Mann!»

«Wie recht Sie haben!» rief er. «Aber wer soll es sonst tun?»

«Versuchen Sie's doch einmal mit einem Inserat», schlug sie vor. «Kinderfrau gesucht!»

«Kinderfräulein», verbesserte er gewissenhaft. «Kost und Logis gratis. Liebevolle Behandlung zugesichert.»

«Jawohl!» sagte sie zornig. «Mindestens sechzig Jahre alt! Besitz eines Waffenscheins Vorbedingung!» Sie verließ den Weg und stolperte, vor sich hinschimpfend, über ein blütenweißes Schneefeld.

Er hatte Mühe, einigermaßen Schritt zu halten.

Einmal drehte sie sich um. «Lachen Sie nicht!» rief sie außer sich. «Sie Wüstling!» Dann rannte sie gehetzt weiter.

«Wollen Sie gleich stehen bleiben!» befahl er.

In demselben Augenblick brach sie im Schnee ein. Sie versank bis an die Hüften. Erst machte sie ein erschrockenes Gesicht. Dann begann sie wild zu strampeln. Aber sie glitt immer tiefer in den Schnee. Es sah aus, als gehe sie unter.

Hagedorn eilte zu Hilfe. «Fassen Sie meine Hand an!» sagte er besorgt. «Ich ziehe Sie heraus.»

Sie schüttelte den Kopf. «Unterstehen Sie sich! Ich bin keine von denen, die sich retten lassen.» In ihren Augen standen Tränen.

Nun war er nicht mehr zu halten. Er bückte sich, packte zu, zog sie aus der Schneewehe, umfing sie mit beiden Armen und küßte sie auf den Mund.

Später sagte sie: «Du Schuft! Du Kanaille! Du Halunke! Du Mädchenhändler!» Und dann gab sie ihm den Kuß, ohne Abzüge, zurück. Hierbei hämmerte sie anfangs mit ihren kleinen Fäusten auf seinen Schultern herum. Später öffneten sich die Fäuste. Dafür schlössen sich, ganz allmählich, ihre Augen. Noch immer hingen kleine Tränen in den langen dunklen Wimpern.

*

«Na, wie war's», fragte Schulze, als sie wiederkamen.

«Das läßt sich schwer beschreiben», sagte Hagedorn.

«Ja, ja», meinte Herr Kesselhuth verständnisvoll. «Diese Gletscher und Durchblicke und Schneefelder überall! Da fehlen einem die Worte.»

«Vor allem die Schneefelder!» bestätigte der junge Mann. Hilde sah ihn streng an.

Tante Julchen erwachte gerade. Ihr Gesicht war rotgebrannt. Sie gähnte und rieb sich die Augen.

Hilde setzte sich und sagte: «Komm Fritz! Neben mir ist noch ein Platz frei.»

Die Tante fuhr elektrisiert hoch. «Was ist denn passiert?»

«Nichts Außergewöhnliches», meinte das junge Mädchen.

«Aber du duzt ihn ja!» rief die alte Frau.

«Ich nehme das Ihrer Nichte nicht weiter übel», bemerkte Hagedorn.

«Er duzt mich ja auch!» sagte Hilde.

«Es ist an dem», erklärte Fritz. «Hilde und ich haben beschlossen, während der nächsten fünfzig Jahre zueinander du zu sagen.»

«Und dann?» fragte Tante Julchen.

«Dann lassen wir uns scheiden», behauptete die Nichte.

«Meine herzlichsten Glückwünsche!» rief Herr Kesselhuth erfreut.

Während die Tante noch immer nach Luft rang, fragte Schulze: «Liebes Fräulein, haben Sie zufällig irgendwelche Angehörigen?»

«Ich bin so frei», erklärte das junge Mädchen. «Ich bin zufällig im Besitz eines Vaters.»

Hagedorn fand das sehr gelungen. «Ist er wenigstens nett?» fragte er.

«Es läßt sich mit ihm auskommen», meinte Hilde. «Er hat glücklicherweise sehr viele Fehler. Das hat seine väterliche Autorität restlos untergraben.»

«Und wenn er mich nun absolut nicht leiden kann?» fragte der junge Mann bekümmert. «Vielleicht will er, daß du einen Bankdirektor heiratest. Oder einen Tierarzt aus der Nachbarschaft. Oder einen Studienrat, der ihm jeden Morgen in der Straßenbahn gegenübersitzt. Das ist alles schon vorgekommen. Na, und wenn er erst hört, daß ich nicht einmal eine Anstellung habe!»

«Du wirst schon eine finden», tröstete Hilde. «Und wenn er dann noch etwas dagegen hat, grüßen wir ihn auf der Straße nicht mehr. Das kann er nämlich nicht leiden.»

«Oder wir machen ihn so rasch wie möglich zum zehnfachen Großvater», erwog Fritz. «Und dann stecken wir alle zehn Kinder in seinen Briefkasten. Das wirkt immer.»

Tante Julchen riß den Mund auf und hielt sich die Ohren zu.

Schulze sagte: «So ist's recht! Ihr werdet ihn schon kleinkriegen, den ollen Kerl!»

Herr Kesselhuth hob abwehrend die Hand. «Sie sollten von Herrn Schulze nicht so abfällig sprechen, Herr Schulze!»

Tante Julchen wurde es zuviel. Sie stand auf und wollte nach Bruckbeuren zurück. «Aber mit der Drahtseilbahn fahre ich nicht!»

«Zu Fuß ist die Strecke noch viel gefährlicher», sagte Hagedorn. «Außerdem dauert es vier Stunden.»

«Dann bleibe ich hier oben und warte bis zum Frühling», erklärte die Tante kategorisch.

«Ich habe doch aber schon die Rückfahrkarten gelöst», meinte Herr Kesselhuth. «Soll denn Ihr Billett verfallen?»

Tante Julchen rang mit sich. Es war ergreifend anzusehen. Endlich sagte sie: «Das ist natürlich etwas anderes.» Und dann schritt sie als erste zur Station.

Sparsamkeit macht Helden.

Das siebzehnte Kapitel

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