Hoffnungen und Entwürfe

Am frühen Nachmittag, während die älteren Herrschaften je ein Schläfchen absolvierten, gingen Hildegard und Fritz in den Wald. Sie fassten sich bei den Händen. Sie blickten einander von Zeit zu Zeit lächelnd an. Sie blieben manchmal stehen, küssten sich und strichen einander zärtlich übers Haar. Sie spielten Haschen. Sie schwiegen meist und hätten jede Tanne umarmen mögen. Das Glück lastete auf ihren Schultern wie viele Zentner Konfekt.

Fritz meinte nachdenklich: «Eigentlich sind wir doch zwei ziemlich gescheite Lebewesen. Ich unterstelle es jedenfalls als wahr. Wie kommt es dann, dass wir uns genau so albern benehmen wie andere Liebespaare? Wir halten uns an den Händchen. Wir stolpern Arm in Arm durch die kahle Natur. Wir bissen einander am liebsten die Nasenspitzen ab. Ist das nicht idiotisch? Frollein, ich bitte um Ihre unmaßgebliche Stellungnahme!»

Hilde kreuzte die Arme vor der Brust, verneigte sich dreimal und sagte: «Erhabener Sultan, gestatte deiner sehr unwürdigen Dienerin die Bemerkung, dass die Klugheit im Liebeskonzert der Völker noch nie die erste Geige spielte.»

«Stehen Sie auf, teuerste Gräfin!» rief er pathetisch, obwohl sie gar nicht kniete. «Stehen Sie auf! Wer so klug ist, dass er die Grenzen der Klugheit erkennt, muss belohnt werden. Ich ernenne Sie hiermit zu meiner Kammerzofe a la suite!»

Sie machte einen Hofknicks. «Ich werde sogleich vor Rührung weinen, Majestät, und bitte, in meinen Tränen baden zu dürfen.»

«Es sei!» erklärte er königlich. «Erkälten Sie sich aber nicht!»

«Keineswegs, Meister», sagte sie. «Die Temperatur meiner Zähren pflegt erfahrungsgemäß zwischen sechsundzwanzig und achtundzwanzig Grad Celsius zu schwanken.»

«Wohlan!» rief er. «Und wann treten Sie Ihren Dienst an meinem Hofe an?»

«Sobald du willst», erklärte sie. Dann begann sie plötzlich, trotz der Nagelschuhe, zu tanzen. «Es handelt sich um den Sterbenden Schwan», fügte sie erläuternd hinzu. «Ich bitte, besonders auf meinen langen Hals zu achten.»

«Tanzen Sie weiter!» meinte er. «Ich hole Sie abends wieder ab.»

Er ging. Sie kam laut heulend hinter ihm her und gab vor, sich zu fürchten. Er nahm sie bei der Hand und sagte: «Törichtes Kind!»

«Aber der Schwan ist doch gestorben», erklärte sie eifrig. «Und mit einem so großen toten Vogel allein im Wald - huhuhu!»

Er gab ihr einen Klaps, und dann setzten sie den Weg fort. Nach einiger Zeit wurde er ernst. «Wie viel Geld muss ich verdienen, damit wir heiraten können? Bist du sehr anspruchsvoll? Was kostet der Ring, den du am Finger hast?»

«Zweitausend Mark.»

«Ach, du grüne Neune», rief er.

«Das ist doch schön», meinte sie. «Den können wir versetzen!»

«Ich werde dich gleich übers Knie legen! Wir werden nicht von dem leben, was du versetzst, sondern von dem, was ich verdiene.»

Sie stemmte die Hände in die Hüften. «Aha! Das könnte dir so passen! Du widerwärtiger Egoist! Alle Männer sind Egoisten. Ich habe ein Buch gelesen. Da stand es drin. ,Das Wirtschaftsgeld und die Monogamie' hieß das Buch. Ihr seid ein heimtückisches, kleinliches Geschlecht, brrr!» Sie schüttelte sich wie ein nasser Pudel. «Vier Monate lang könnten wir von dem Ring leben! In einer Dreizimmerwohnung mit indirekter Beleuchtung! Zentralheizung und Fahrstuhl inklusive! Und Sonntags könnten wir miteinander zum Fenster hinausgucken! Aber nein! Lieber stopfst du mich in eine Konservenbüchse wie junges Gemüse. Bis ich einen grauen Bart kriege. Ich bin aber kein junges Gemüse!»

«Doch», wagte er zu bemerken.

«Ich schmeiße den blöden Ring in den Schnee!» rief sie. Und sie tat es wirklich. Anschließend krochen sie auf allen Vieren im Wald umher. Endlich fand er den Ring wieder.

«Ätsch!» machte sie. «Nun gehört er dir!»

Er steckte ihn an ihren Finger und sagte: «Ich borge ihn dir bis auf weiteres.» Nach einer Weile fragte er: «Du glaubst also, dass wir mit fünfhundert Mark im Monat auskommen?»

«Na klar.»

«Und wenn ich weniger verdiene?»

«Dann kommen wir mit weniger aus», meinte sie überzeugt. Du darfst das Geld nicht so ernst nehmen, Fritz. Wenn alle Stränge reißen, pumpen wir meinen Vater an. Damit er weiß, wozu er auf der Welt ist.»

«Du bist wahnwitzig», sagte er. «Du verstehst nichts von Geld. Und von Männern verstehst du noch weniger. Dein Vater könnte der Schah von Persien sein - ich nähme keinen Pfennig von ihm geschenkt.»

Sie hob sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm ins Ohr: «Liebling, mein Vater ist doch aber gar nicht der Schah von Persien!»

«Da haben wir's», sagte er. Da siehst du wieder einmal, dass ich immer recht habe.»

«Du bist ein Dickschädel», erwiderte sie. «Zur Strafe fällt Klein-Hildegard nunmehr in eine tiefe Ohnmacht.» Sie machte sich stocksteif, kippte in seine ausgebreiteten Arme, blinzelte vorsichtig durch die gesenkten Lider und spitzte die Lippen. (Nicht etwa, um zu pfeifen.)

*

Inzwischen hatten die älteren Herrschaften das Nachmittagsschläfchen erfolgreich beendet. Johann stieg, über die Dienstbotentreppe, ins fünfte Stockwerk und brachte Blumen, eine Kiste Zigarren, frische Rasierklingen sowie Geheimrat Toblers violette Hose, die er gebügelt hatte.

Der Geheimrat stand ohne Beinkleider in seinem elektrisch geheizten Dachstübchen und sagte: «Deswegen suche ich wie ein Irrer! Ich wollte gerade in Unterhosen zum Fünfuhrtee gehen!»

«Ich habe die Hose, während Sie schliefen, aus Ihrem Zimmer geholt. Sie sah skandalös aus.»

«Hauptsache, dass sie Ihnen jetzt gefällt», meinte Tobler. Er kleidete sich an. Johann bürstete ihm Jackett und Schuhe. Dann gingen sie und klopften unterwegs an Frau Kunkels Zimmer. Tante Julchen rauschte imposant in den Korridor.

Sie haben sich ja geschminkt!» meinte Johann.

«Ein ganz kleines bisschen», sagte sie. «Man fällt sonst aus dem Rahmen. Wir können schließlich nicht alle miteinander wie die Vagabunden herumrennen! Herr Geheimrat, ich habe ein paar Anzüge mitgebracht. Wollen Sie sich nicht endlich umziehen? Heute früh haben die Leute oben auf dem hohen Berg gräßliche Bemerkungen gemacht.»

«Halten Sie den Mund, Kunkel!» befahl Tobler. «Es ist egal!»

«Ein Herr mit einer Hornbrille hat gesagt: ,Wenn man den Kerl ins Kornfeld stellt, fliegen alle Vögel fort!' Und eine Dame...»

«Sie sollen den Mund halten!» knurrte Johann.

«Die Dame sagte: ,So etwas müßte der Verkehrsverein narkotisieren und heimschicken.'»

«Ein rohes Frauenzimmer!» meinte der Geheimrat. «Aber so sind die Menschen.»

Dann tranken sie in der Halle Kaffee. Frau Kunkel aß Torte und sah den Tanzpaaren zu. Die beiden Männer lasen Zeitung und rauchten schwarze Zigarren.

Plötzlich trat ein Boy an den Tisch und sagte: «Herr Schulze, Sie sollen mal zum Herrn Portier kommen!»

«Tobler, der, in Gedanken versunken, Zeitung las, meinte: «Johann, sehen Sie nach, was er will!»

«Schrecklich gern», flüsterte Herr Kesselhuth. «Aber das geht doch nicht.»

Der Geheimrat legte das Blatt beiseite. «Das geht wirklich nicht.» Er blickte den Boy an. «Einen schönen Gruß, und ich läse Zeitung. Wenn der Herr Portier etwas von mir will, soll er herkommen.»

Der Junge machte ein dämliches Gesicht und verschwand. Der Geheimrat griff erneut zur Zeitung. Frau Kunkel und Johann blickten gespannt zur Portierloge hinüber.

Kurz darauf kam Onkel Folter an. «Ich höre, dass Sie sehr beschäftigt sind», meinte er mürrisch.

Tobler nickte gleichmütig und las weiter.

«Wie lange kann das dauern?» fragte der Portier und bekam rote Backen.

«Schwer zu sagen», meinte Tobler. «Ich bin erst beim Leitartikel.»

Der Portier schwitzte schon. «Die Hoteldirektion wollte Sie um eine kleine Gefälligkeit bitten.»

«Oh, darf ich endlich den Schornstein fegen?»

«Sie sollen für ein paar Stunden die Skihalle beaufsichtigen. Bis die letzten Gäste herein sind. Der Sepp ist verhindert.»

«Hat er die Masern?» fragte der andere. «Sollte ihn das Kind der Botenfrau angesteckt haben?»

Der Portier knirschte mit den Zähnen. «Die Gründe tun nichts zur Sache. Dürfen wir auf Sie zählen?»

Herr Schulze schüttelte den Kopf. Er schien die Absage selber zu bedauern. «Ich mag heute nicht. Vielleicht ein andermal.»

Die Umsitzenden spitzten die Ohren. Frau Casparius, die an einem der Nebentische saß, reckte den Hals.

Onkel Folter senkte die Stimme. «Ist das Ihr letztes Wort?»

«In der Tat», versicherte Schulze. «Sie wissen, wie gern ich Ihrem offensichtlichen Personalmangel abhelfe. Aber heute bin ich nicht in der richtigen Stimmung. Ich glaube, das Barometer fällt. Ich bin ein sensibler Mensch. Guten Abend!»

Der Portier trat noch einen Schritt näher. «Folgen Sie mir endlich!» Hierbei legte er seine Rechte auf Schulzes Schulter. «Ein bisschen plötzlich, bitte!»

Da aber drehte sich Schulze herum und schlug dem Portier energisch auf die Finger. «Nehmen Sie sofort die Hand von meinem Anzug!» fügte er drohend hinzu. «Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass ich jähzornig bin.»

Der Portier bekam Fäuste. Sein Atem pfiff.

Er erinnerte an eine Kaffeemaschine, die den Siedepunkt erreicht hat. Aber er sagte nur: «Wir sprechen uns noch.» Dann ging er. An den Nebentischen wurde erregt geflüstert. Die Augen der Bremer Blondine schillerten giftig.

«Hätten Sie ihm doch eine geklebt», meinte Tante Julchen. «Es ist immer dasselbe, Herr Geheimrat. Sie sind zu gutmütig.»

«Ruhe!» flüsterte Tobler. «Die Kinder kommen.»

Als sich Doktor Hagedorn fürs Abendessen umkleidete, brachte der Liftboy einen Einschreibebrief und, mit Empfehlungen vom Portier, ein paar ausländische Briefmarken. Fritz quittierte. Dann öffnete er den Umschlag. Wer schickte ihm denn Einschreibebriefe nach Bruckbeuren? Er stolperte lesend über den Teppich. Er fiel aufs Sofa, mitten zwischen die drei spielenden Katzen, und starrte hypnotisiert auf das Schreiben. Dann drehte er das Kuvert um. Ein Stück Papier rutschte heraus. Ein Scheck über fünfhundert Mark! Er fuhr sich aufgeregt durchs Haar.

Eine der Katzen kletterte auf seine Schulter, rieb ihren Kopf an seinem Ohr und schnurrte. Er stand auf, hielt sich, weil ihm schwindelte, am Tisch fest und trat langsam zum Fenster. Vor ihm lagen der verschneite Park, die spiegelglatte Eisbahn, die Skihalle mit dem weißen Dach. Ein paar Liegestühle waren vergessen worden. Hagedorn sah nichts von alledem.

Die Katze krallte sich ängstlich in dem blauen Jackett fest. Sie machte einen Buckel. Er lief kreuz und quer durchs Zimmer. Sie miaute kläglich. Er nahm sie von seiner Schulter, setzte sie auf den Rauchtisch und ging weiter. Er bückte sich, nahm den Scheck hoch, den Brief auch. Dann sagte er: «Nun ist der Bart ab!» Etwas Passenderes fiel ihm nicht ein.

Plötzlich rannte er aus dem Zimmer. Im Korridor begegnete ihm das Stubenmädchen. Sie blickte ihn lächelnd an, wünschte guten Abend und fragte: «Haben der Herr Doktor absichtlich keine Krawatte umgebunden?»

Er blieb stehen. «Wie bitte? Ach so. Nein. Danke schön.» Er ging in seine Gemächer zurück. Hier begann er zu pfeifen. Etwas später begab er sich, die Tür weit offen lassend, zum Portier hinunter und verlangte ein Telegrammformular.

«Entschuldigung, Herr Doktor. Haben Sie absichtlich keine Krawatte umgebunden?»

«Wieso?» fragte Hagedorn. «Ich war doch extra deswegen noch einmal in meinem Zimmer!» Er griff sich an den Hemdkragen und schüttelte den Kopf. «Tatsächlich! Na, erst muss ich depeschieren.» Er beugte sich über das Formular und adressierte es an: «Fleischerei Kuchenbuch, Charlottenburg, Mommsenstraße 7.» Dann schrieb er: «Anrufe Dienstag 10 Uhr stop erbitte Mutter ans Telephon stop vorbereitet freudige Mitteilung. Fritz Hagedorn.»

Er reichte das Formular über den Tisch. «Wenn meine Mutter eine Depesche kriegt, denkt sie, ich bin unter eine Lawine gekommen. Drum depeschiere ich dem Fleischer von nebenan. Der Mann hat Gemüt.»

Der Portier nickte höflich, obwohl er nicht verstand, worum es sich handelte.

Hagedorn ging in den Speisesaal. Die anderen saßen schon bei Tisch. Er sagte: «Mahlzeit!» und nahm Platz.

«Haben Sie absichtlich keine Krawatte umgebunden?» fragte Tante Julchen.

«Ich bitte um Nachsicht», meinte er. «Ich habe heute einen Webefehler.»

«Wovon denn, mein Junge?» erkundigte sich Schulze.

Hagedorn klopfte mit einem Löffel ans Glas. «Wisst ihr, was los ist? Ich bin engagiert! Ich habe vom nächsten Ersten ab eine Anstellung! Mit achthundert Mark im Monat! Es ist zum Überschnappen! Eduard, hast du noch keinen Brief bekommen? Nein? Dann kriegst du ihn noch. Verlass dich drauf! Man schreibt mir, wir zwei hätten künftig geschäftlich miteinander zu tun? Freust du dich, oller Knabe? Hach, ist das Leben schön!» Er blickte den Schifffahrtsbesitzer Johann Kesselhuth an. «Haben Sie vielen Dank! Ich bin so glücklich!» Er drückte dem soignierten alten Herrn gerührt die Hand. «Eduard, bedanke dich auch!»

Schulze lachte. «Das hätte ich fast vergessen. Also, besten Dank, mein Herr!»

Kesselhuth rutschte verlegen auf seinem Stuhl hin und her. Tante Julchen sah verständnislos von einem zum anderen.

Hagedorn griff in die Tasche und legte den Scheck über fünfhundert Mark neben Hildes Teller. «Eine Sondergratifikation! Kinder, ist das eine noble Firma! Fünfhundert Mark, noch ehe man den kleinen Finger krumm gemacht hat! Der Abteilungschef schreibt, ich möge mich im Interesse des Unternehmens bestens erholen. Bestens! Was sagt ihr dazu?»

«Prächtig, prächtig», meinte Hilde. «Da kannst du morgen gleich deiner Mutter etwas schicken, nicht?»

Er nickte. «Jawohl! Zweihundert Mark! Außerdem kommt sie früh zu Kuchenbuchs. Ich erzähle ihr alles am Telephon.»

«Kuchenbuchs?» fragte Eduard.

«Das ist der Fleischer, bei dem wir kaufen. Ich habe ihm eben eine Depesche geschickt. Er soll meine Mutter schonend vorbereiten. Sonst erschrickt sie zu Tode.»

Hilde sagte: «Ich gratuliere dir zu deiner Anstellung von ganzem Herzen.»

«Ich dir auch», antwortete er fröhlich. «Nun kriegst du endlich einen Mann.»

«Wen denn?» fragte Tante Julchen. «Ach, so, ich weiß schon. Na ja. Damit Sie's wissen, Herr Doktor, ich bin nicht sehr dafür.»

«Es tut mir leid», sagte er. «Aber ich kann leider auf Hildes Tanten keine Rücksicht nehmen. Das würde zu weit führen. Liebling, ob dein Vater einverstanden sein wird? Achthundert Mark sind doch 'ne Stange Geld.»

Frau Kunkel lachte despektierlich.

«Pass mal auf», sagte Hilde. «Wir werden sogar sparen. Wir brauchen kein Dienstmädchen, sondern ich lasse dreimal in der Woche eine Aufwartefrau kommen.»

«Aber wenn der Junge da ist, nehmen wir ein Dienstmädchen», erklärte Hagedorn besorgt.

«Welcher Junge», fragte die Tante.

«Unser Junge!» sagte Hilde stolz.

«Wir werden ihn Eduard nennen», bemerkte der künftige Papa. «Im Hinblick auf meinen Freund.»

«Und wenn es ein Mädchen ist?» fragte Schulze besorgt.

«Für diesen Fall möchte ich Eduardine vorschlagen», erklärte Herr Kesselhuth.

«Sie sind ein rindiger Kopf», sagte Schulze anerkennend.

«Es wird bestimmt ein Junge», versicherte Hagedorn.

Hilde meinte: «Ich habe auch so das Gefühl.» Und dann wurde sie rot bis über beide Ohren.

Tante Julchen rang nach neuem Gesprächsstoff. Sie fragte: «Welche Firma hat Sie denn engagiert?»

Hagedorn warf sich in die Brust: «Sie werden staunen, Tantchen. Die Toblerwerke!»

Tante Julchen staunte wirklich. Sie staunte so sehr, dass ihr ein Hühnerknochen in die Speiseröhre geriet. Die Augen traten ihr faustdick aus dem Kopf. Sie hustete aus tiefster Seele. Man flößte ihr Wasser ein. Man hielt ihr die Arme hoch. Sie riß sich los, warf einen gequälten Blick auf Herrn Schulze und entwich.

«Hat sie das häufig?» fragte Fritz, als sie fort war.

,Seit sie meine Tante ist', wollte Hilde eigentlich sagen. Aber sie sah die Augen ihres Vaters und die des Dieners Johann auf sich gerichtet und erklärte: «Die Freude wird sie überwältigt haben.»

*

Am gleichen Abend fand, eine Stunde später, ein Gespräch statt, das nicht ohne Folgen bleiben sollte. Frau Casparius kam zu Onkel Polter, der hinter seinem Ladentisch saß und eine englische Zeitung überflog. «Ich habe mit Ihnen zu reden», erklärte sie.

Er stand langsam auf. Die Füße taten ihm weh.

«Wir kennen einander seit fünf Jahren, nicht wahr?»

«Jawohl, gnädige Frau. Als Sie das erste Mal bei uns waren, wohnten gerade die akademischen Skiläufer im Hotel.» Das klang etwas anzüglich.

Sie lächelte, griff in ihre kleine Brokattasche und gab ihm ein Bündel Banknoten. «Es sind fünfhundert Mark», erklärte sie obenhin. «Ich habe die Summe gerade übrig.»

Er nahm das Geld. «Gnädige Frau, verfügen Sie über mich!»

Sie holte eine Zigarette aus dem goldenen Etui. Er gab ihr Feuer. Sie rauchte und blickte ihn prüfend an. «Hat sich eigentlich noch keiner der Gäste über Herrn Schulze beschwert?»

«O doch», sagte er. «Man hat sich wiederholt erkundigt, wieso ein derartig abgerissen gekleideter Mensch ausgerechnet in unserem Hotel wohnt. Dazu kommt ja noch, dass sich der Mann im höchsten Grade unverschämt aufführt. Ich selber hatte heute nachmittag einen Auftritt mit ihm, der jeder Beschreibung spottet.»

«Diese Beschreibung wäre zudem überflüssig», erklärte sie. «Ich saß am Nebentisch. Es war skandalös! Sie sollten sich eine solche Unverfrorenheit nicht bieten lassen. Das untergräbt den guten Ruf Ihres Hotels.»

Der Portier zuckte die Achseln. «Was kann ich dagegen tun, gnädige Frau? Gast bleibt Gast.»

«Hören Sie zu! Mir liegt daran, dass Herr Schulze umgehend verschwindet. Die Gründe tun nichts zur Sache.»

Er verzog keine Miene.

«Sie sind ein intelligenter Mensch», sagte sie. «Beeinflussen Sie den Hoteldirektor! Übertreiben Sie die Beschwerden, die gegen Schulze geführt wurden. Fügen Sie hinzu, dass ich niemals wieder hier herkomme, falls nichts unternommen wird. Herr Lenz geht übrigens mit mir d'accord.»

«Und was soll praktisch geschehen?»

«Herr Kühne soll morgen dem Schulze vorschlagen, im Interesse der Gäste und des Hotels abzureisen. Der Mann ist offensichtlich sehr bedürftig. Bieten Sie ihm eine pekuniäre Entschädigung an! Die Höhe der Summe ist mir gleichgültig. Geben Sie ihm dreihundert Mark. Das ist für ihn ein Vermögen. »

«Ich verstehe», meinte der Portier.

«Umso besser», meinte sie hochmütig. «Was Sie von den fünfhundert Mark übrig behalten, gehört selbstverständlich Ihnen.»

Er verbeugte sich dankend. «Ich werde tun, was in meinen Kräften steht, gnädige Frau.»

«Noch eins», sagte sie. «Wenn dieser Herr Schulze morgen nachmittag nicht verschwunden sein sollte, reise ich mit dem Abendzug nach Sankt Moritz. Auch das wollen Sie, bitte, Ihrem Direktor ausrichten!» Sie nickte flüchtig und ging in die Bar. Das Abendkleid rauschte. Es klang, als flüsterte es in einem fort seinen Preis.

Das achtzehnte Kapitel

Zerstörte Illusionen

Am nächsten Morgen kurz nach acht Uhr klingelte es bei Frau Hagedorn in der Mommsenstraße. Die alte Dame öffnete.

Draußen stand der Lehrling vom Fleischermeister Kuchenbuch. Er war fast zwei Meter groß und wurde Karlchen genannt. «Einen schönen Gruß vom Meister», sagte Karlchen. «Und um zehn Uhr würde der Doktor Hagedorn aus den Alpen anrufen. Sie brauchten aber nicht zu erschrecken.»

«Da soll man nicht erschrecken?» fragte die alte Dame.

«Nein. Er hat uns gestern abend ein Telegramm geschickt, und wir sollten Sie, bitte, auf ein freudiges Ereignis vorbereiten.»

«Das sieht ihm ähnlich», sagte die Mutter. «Ein freudiges Ereignis? Ha! Ich komme gleich hinunter. Moment mal, ich hole Ihnen einen Sechser. Für den Weg.

Sie verschwand, brachte ein Fünfpfennigstück und gab es Karlchen. Er bedankte sich und rannte polternd treppab.

Punkt neun Uhr erschien Frau Hagedorn bei Kuchenbuchs im Laden.

«Karlchen hat natürlich wieder einmal Quatsch gemacht», meinte die Frau des Fleischermeisters. «Sie kommen eine Stunde zu früh.»

«Ich weiß», sagte Mutter Hagedorn. «Aber ich habe zu Hause keine Ruhe. Vielleicht telephoniert er früher. Ich werde Sie gar nicht stören.»

Frau Kuchenbuch lachte gutmütig. Von Stören könne keine Rede sein. Dann gab sie der alten Dame die Depesche und lud sie zum Sitzen ein.

«Wie er sich hat!» meinte Frau Hagedorn gereizt. «Er tut ja gerade, als ob ich eine Zimttüte wäre. So schnell erschrecke ich nun wirklich nicht.»

«Was mag er nur wollen?» fragte die Meistersfrau.

«Ich bin schrecklich aufgeregt», stellte die alte Dame fest. Dann kamen Kunden, und sie musste den Mund halten. Sie blickte jede Minute dreimal auf die Wanduhr, die über den Zervelat- und Salamiwürsten hing. Kalt war's im Laden. Und die Steinfliesen waren feucht. Draußen war Matschwetter.

Als kurz nach zehn Uhr das Telephon klingelte, war sie bereits völlig aufgelöst. Sie lief zittrig hinter die Ladentafel, schob sich am Hackblock vorbei, presste den Hörer krampfhaft ans Ohr und sagte zu Frau Kuchenbuch: «Hoffentlich verstehe ich ihn deutlich. Er ist so weit weg!» Dann schwieg sie und lauschte angespannt. Plötzlich erstrahlte ihr Gesicht. Wie ein Festsaal, der eben noch im Dunkeln lag. «Ja?» rief sie mit heller Stimme. «Hier Hagedorn! Fritz, bist du's? Hast du dir ein Bein gebrochen? Nein? Das ist recht. Oder einen Arm? Auch nicht? Da bin ich aber froh, mein Junge. Bist du bestimmt gesund? Wie? Was sagst du? Ich soll ruhig zuhören? Fritz benimm dich. So spricht man nicht mit seiner Mutter. Nicht einmal telephonisch. Was gibt's?»

Sie schwieg ziemlich lange, hörte angespannt zu und tat unvermittelt einen kleinen Luftsprung.

«Junge, Junge! Mache keine Witze? Achthundert Mark im Monat? Hier in Berlin? Das ist aber schön. Stelle dir vor, du müsstest nach Königsberg oder Köln, und ich säße in der Mommsenstraße und finge Fliegen. Was soll ich mich? Sprich lauter, Fritz! Es ist jemand im Laden. Ach so, festhalten soll ich mich!! Gern, mein Junge. Wozu denn? Was hast du dich? Du hast dich verlobt? Schreck, lass nach! Hildegard Schulze? Kenne ich nicht. Weshalb denn gleich verloben? Dazu muß man sich doch erst näher kennen. Widersprich nicht. Das weiß ich besser. Ich war schon verlobt, da warst du noch gar nicht auf der Welt. Wieso willst du das hoffen? Ach so!»

Sie lachte.

«Na, ich werde das Fräulein mal unter die Lupe nehmen. Wenn sie mir nicht gefällt, erlaube ich's nicht. Abwarten und Tee trinken. Tee trinken, habe ich gesagt. Lade sie zum Abendessen bei uns ein! Ist sie verwöhnt? Nein? Dein Glück! Was hast du abgeschickt? Zweihundert Mark? Ich brauche doch nichts. Also gut. Ich kaufe ein paar Oberhemden und was du sonst noch brauchst. Müssen wir nicht aufhören, Fritz? Es wird sonst zu teuer. Was ich noch fragen wollte: Reicht die Wäsche? Habt ihr schönes Wetter? Dort taut es auch? Das ist aber schade. Und grüße das Mädchen von mir. Nicht vergessen! Und deinen Freund. Du, der heißt doch auch Schulze! Sie ist wohl seine Tochter? Gar nicht miteinander verwandt? Soso.»

Nun hörte die alte Dame wieder längere Zeit zu. Dann fuhr sie fort: «Also, mein lieber Junge, auf frohes Wiedersehen! Bleib mir gesund! Komme nicht unter die Straßenbahn. Weiß ich ja. Es gibt gar keine in eurem Kuhdorf.» Sie lachte. «Mir geht's ausgezeichnet. Und vielen Dank für den Anruf. Das war sehr lieb von dir. Weißt du schon, ob du günstige Fahrtverbindung zum Büro hast? Weißt du noch nicht? Aha. Wie heißt denn die Firma? Toblerwerke? Die dir den Preis verliehen haben? Da wird sich aber Herr Franke freuen. Natürlich grüß ich ihn. Selbstverständlich. So, nun wollen wir hinhängen. Sonst kostet es das Doppelte. Auf Wiedersehen, mein Junge. Ja. Natürlich. Ja, ja. Ja! Auf Wiedersehen!»

«Das waren aber gute Nachrichten», meinte Frau Kuchenbuch anerkennend.

«Achthundert Mark im Monat», sagte die alte Dame. «Und vorher jahrelang keinen Pfennig!»

«Achthundert Mark und eine Braut!»

Frau Hagedorn nickte. «Ein bisschen viel aufs Mal, wie? Aber dazu sind die Kinder ja schließlich da, dass sie später Eltern werden.»

«Und wir Großeltern.»

«Das wollen wir stark hoffen», meinte die alte Dame. Sie musterte den Ladentisch.

«Geben Sie mir, bitte, ein Viertelpfund Hochrippe. Und ein paar Knochen extra. Und ein Achtel gekochten Schinken. Der Tag muss gefeiert werden.»

*

Fritz war früh auf der Bank gewesen und hatte den Scheck eingelöst. Dann hatte er im Postamt das Telefongespräch mit Berlin angemeldet und, während er auf die Verbindung wartete, für seine Mutter zweihundert Mark eingezahlt.

Jetzt, nach dem Gespräch, bummelte er guter Laune durch den kleinen, altertümlichen Ort und machte Einkäufe. Das ist, wenn man jahrelang jeden Pfennig zehnmal hat umdrehen müssen, ein ergreifendes Vergnügen. Jahrelang hat man die Zähne zusammengebissen. Und nun das Glück wie der Blitz eingeschlagen hat, möchte man am liebsten heulen. Na, Schwamm drüber!

Für Herrn Kesselhuth, seinen Gönner, besorgte Doktor Hagedorn eine Kiste kostbarer Havannazigarren. Für Eduard kaufte er in einem Antiquitätengeschäft einen alten Zinnkrug. Für Hilde erstand er ein seltsam traubenförmiges Ohrgehänge. Es war aus Jade, mattem Gold und Halbedelsteinen. Im Blumenladen bestellte er schließlich für Tante Julchen einen imposanten Strauß und bat die Verkäuferin, die Geschenke ins Hotel zu schicken. Sich selber schenkte er nichts.

Anderthalb Stunden war er im Ort. Als er zurückkam, lag Kasimir, der unvergleichliche Schneemann, in den letzten Zügen. Der Konfitüreneimer, Kasimirs Helm, saß auf den Schultern. Augen, Nase, Mund und Schnurrbart waren dem geliebten Husaren auf die Heldenbrust gerutscht. Aber noch stand er aufrecht. Er starb im Stehen, wie es sich für einen Soldaten geziemt.

«Fahr wohl, teurer Kasimir!» sagte Hagedorn. «Ohne Kopf kann keiner aus dem Fenster gucken.» Dann betrat er das Grandhotel. Hier war inzwischen mancherlei geschehen.

Das Unheil hatte harmloserweise damit begonnen, dass Geheimrat Tobler, seine Tochter, die Kunkel und Johann frühstückten.

Sie saßen im Verandasaal, aßen Brötchen und sprachen über das Tauwetter. «Wenn wir einen Wagen mithätten», sagte Hilde, «könnten wir nach München fahren.»

«Du darfst nicht vergessen, dass ich ein armer Mann bin», meinte ihr Vater. «Wir werden eine Stunde Kegel schieben. Das beruhigt die Nerven. Wo steckt übrigens mein Schwiegersohn?»

«Auf der Bank und auf der Post», berichtete Hilde. «Wie haben Sie geschlafen, Kunkel?»

«Miserabel», sagte Tante Julchen. «Ich habe entsetzlich geträumt. Das hätten Sie aber auch nicht mit mir machen dürfen!»

«Was denn?» fragte Johann.

«Als Doktor Hagedorn erzählte, dass ihn die Toblerwerke engagiert hätten, ihn und den Herrn Schulze dazu, und der Hühnerknochen war so spitz, ich habe oben im Zimmer Tafelöl getrunken, es war abscheulich.»

«Wenn wir wieder einmal eine Überraschung für sie haben», sagte Johann, «kriegen Sie Haferflocken.»

«Das hat alles keinen Zweck», erklärte der Geheimrat. «Dann verschluckt sie den Löffel.»

«Den Löffel legen wir vorher an die Kette», meinte Hilde.

Frau Kunkel war wieder einmal gekränkt.

Aber viel Zeit blieb ihr nicht dazu. Denn der Portier und der Direktor Kühne traten feierlich in den Saal und näherten sich dem Tisch.

«Die beiden sehen wie Sekundanten aus, die eine Duellforderung überbringen», behauptete der Geheimrat.

Johann konnte eben noch «Dicke Luft!» murmeln. Da machte Karl der Kühne schon seine Verbeugung und sagte: «Herr Schulze, wir möchten Sie eine Minute sprechen.»

Schulze meinte: «Eine Minute? Meinetwegen.»

«Wir erwarten Sie nebenan im Schreibzimmer», erklärte der Portier.

«Da können Sie lange warten», behauptete Schulze.

Hilde sah auf ihre Armbanduhr. «Die Minute ist gleich um.»

Herr Kühne und Onkel Folter wechselten Blicke. Dann gestand der Direktor, dass es sich um eine delikate Angelegenheit handle.

«Das trifft sich großartig», sagte Tante Julchen. «Für so etwas schwärme ich. Hildegard, halte dir die Ohren zu!»

«Wie Sie wünschen», meinte der Direktor. «Ich wollte Herrn Schulze die Gegenwart von Zeugen ersparen. Kurz und gut, die Hotelbetriebsgesellschaft, deren hiesiger Direktor ich bin, ersucht Sie, unser Haus zu verlassen. Einige unserer Stammgäste haben Anstoß genommen. Seit gestern haben sich die Beschwerden gehäuft. Ein Gast, der begreiflicherweise nicht genannt sein will, hat eine beträchtliche Summe ausgeworfen. Wie viel war es?»

«Zweihundert Mark», sagte Onkel Folter gütig.

«Diese zweihundert Mark», meinte der Direktor, «werden Ihnen ausgehändigt, sobald Sie das Feld räumen. Ich nehme an, dass Ihnen das Geld nicht ungelegen kommt.»

«Warum wirft man mich eigentlich hinaus?» fragte Schulze. Er war um einen Schein blässer geworden. Das Erlebnis ging ihm nahe.

«Von Hinauswerfen kann keine Rede sein», sagte Herr Kühne. «Wir ersuchen Sie, wir bitten Sie, wenn Sie so wollen. Uns liegt daran, die anderen Gäste zufrieden zu stellen.»

«Ich bin ein Schandfleck, wie?», fragte Schulze.

«Ein Misston», erwiderte der Portier.

Geheimrat Tobler, einer der reichsten Männer Europas, meinte ergriffen: «Armut ist also doch eine Schande.»

Aber Onkel Folter zerstörte die Illusion. «Sie verstehen das Ganze falsch», erklärte er. «Wenn ein Millionär mit drei Schrankkoffern ins Armenhaus zöge und dort dauernd im Frack herumliefe, wäre Reichtum eine Schande! Es kommt auf den Standpunkt an.»

«Alles zu seiner Zeit und am rechten Ort», behauptete Herr Kühne.

«Und Sie sind nicht am rechten Ort», sagte Onkel Folter.

Da erhob sich Tante Julchen, trat dicht an Onkel Folter heran, wedelte unmissverständlich mit der rechten Hand und meinte: «Machen Sie, dass Sie fortkommen, sonst knallt's!»

«Lassen Sie den Portier in Ruhe!» befahl Schulze. Er stand auf. «Also gut. Ich reise. Herr Kesselhuth, würden Sie die Güte haben und ein Leihauto bestellen? In zwanzig Minuten fahre ich.»

«Ich komme natürlich mit», sagte Herr Kesselhuth. «Portier, meine Rechnung. Aber ein bisschen plötzlich!» Er verschwand im Laufschritt.

«Mein Herr!» rief der Direktor hinterher. «Warum wollen Sie uns denn verlassen?»

Tante Julchen lachte böse. «Sie sind ja wirklich das Dümmste, was 'raus ist! Hoffentlich hebt sich das mit der Zeit. Für meine Nichte und mich die Rechnung! Aber ein bisschen plötzlich!» Sie rauschte davon und stolperte über die Schwelle.

Der Direktor murmelte: «Einfach tierisch!»

«Wo sind die zweihundert Mark?» fragte Herr Schulze streng.

«Sofort», murmelte der Portier, holte die Brieftasche heraus und legte zwei Scheine auf den Tisch.

Schulze nahm das Geld, winkte dem Ober, der an der Tür stand, und gab ihm die zweihundert Mark. «Die Hälfte davon bekommt der Sepp, mit dem ich die Eisbahn gekehrt habe», sagte er. «Werden Sie das nicht vergessen?»

Der Kellner hatte die Sprache verloren. Er schüttelte nur den Kopf.

«Dann ist's gut», meinte Schulze. Er sah den Direktor und den Portier kalt an. «Entfernen Sie sich!» Die beiden folgten wie die Schulkinder. Geheimrat Tobler und Hilde waren allein.

«Und was wird mit Fritz?» fragte Fräulein Tobler.

Ihr Vater blickte den entschwindenden Gestalten nach. Er sagte: «Morgen kaufe ich das Hotel. Übermorgen fliegen die beiden hinaus.»

«Und was wird mit Fritz?» fragte Hilde weinerlich.

«Das erledigen wir in Berlin», erklärte der Geheimrat. «Glaub mir, es ist die beste Lösung. Sollen wir ihm in dieser unmöglichen Situation erzählen, wer wir eigentlich sind?»

*

Zwanzig Minuten später fuhr eine große Limousine vor. Sie gehörte dem Lechner Leopold, einem Fuhrhalter aus Bruckbeuren, und er saß persönlich am Steuer. Die Hausdiener brachten aus dem Nebeneingang des Hotels mehrere Koffer und schnallten sie auf dem Klapprost des Wagens fest.

Der Direktor und der Portier standen vor dem Portal und waren sich nicht im Klaren.

«Einfach tierisch», sagte Herr Kühne. «Der Mann schmeißt zweihundert Mark zum Fenster hinaus. Er lässt seine Freifahrkarte verfallen und fährt im Auto nach München. Drei Gäste, die er erst seit ein paar Tagen kennt, schließen sich an. Ich fürchte, wir haben uns da eine sehr heiße Suppe eingebrockt.»

«Und das alles wegen dieser mannstollen Casparius!» meinte Onkel Folter. «Sie will den Schulze doch nur forthaben, damit sie besser an den kleinen Millionär herankann.»

«Ja, warum haben Sie mir denn das nicht früher mitgeteilt?» fragte Karl der Kühne empört.

Der Portier dachte an die dreihundert Mark, die er bei der Transaktion eingesteckt hatte, und steckte den Vorwurf dazu.

Dann kamen Tante Julchen und ihre Nichte. Sie waren mit Hutschachteln, Schirmen und Taschen beladen. Der Direktor wollte ihnen beispringen. «Lassen Sie die Finger davon!» befahl die Tante. «Ich war nur zwei Tage hier. Aber mir hat's genügt. Ich werde Sie, wo ich kann, weiterempfehlen.»

«Ich bin untröstlich», erklärte Herr Kühne.

«Mein Beileid», sagte die Tante.

Der Portier fragte: «Meine Damen, warum verlassen Sie uns denn so plötzlich?»

«Er kommt aus dem Mustopf», meinte Tante Julchen.

«Hier ist ein Brief für Doktor Hagedorn», sagte Hilde. Onkel Folter nahm ihn ehrfürchtig in Empfang. Das junge Mädchen wandte sich an den Direktor. «Ehe ich's vergesse: wir haben vor sechs Tagen miteinander telephoniert.»

«Nicht dass ich's wüsste, gnädiges Fräulein!» «Ich bereitete Sie damals auf einen verkleideten Millionär vor.»

«Sie waren das?» fragte der Portier. «Und jetzt lassen Sie Herrn Doktor Hagedorn allein?»

«Wie kann ein einzelner Mensch nur so dämlich sein!» meinte Tante Julchen und schüttelte das Haupt.

Hilde sagte: «Tantchen, jetzt keine Fachsimpeleien! Guten Tag, die Herren. Ich glaube, Sie werden lange an den Fehler denken, den Sie heute gemacht haben.» Die beiden Damen stiegen in Lechners Limousine.

Bald darnach erschien Schulze und Kesselhuth. Schulze legte einen Brief für Fritz auf den Portiertisch.

Der Direktor und Onkel Polter verbeugten sich. Sie wurden aber übersehen. Das Auto füllte sich. Johann hielt die elektrische Heizsonne auf dem Schoß. Die Koffer waren voll gewesen.

Der Lechner Leopold wollte schon anfahren, als Sepp, der Skihallenhüter, angaloppiert kam. Er gab gutturale Laute der Rührung von sich, ergriff Schulzes Hand und schien entschlossen, sie abreißen zu wollen.

«Schon gut, Sepp», sagte Schulze. «Es ist gern geschehen. Sie waren beim Eisbahnkehren sehr nett zu mir.»

Kesselhuth zeigte auf die kläglichen Reste des getauten Schneemanns. «Der schöne Kasimir ist hin.»

Schulze lächelte. Er entsann sich jener gestirnten Nacht, in der Kasimir zur Welt gekommen war. «Schön war's doch», murmelte er.

Dann fuhr der Wagen davon. Die Schnee pfützen spritzten.

*

Als Hagedorn ins Hotel zurückkam, übergab ihm der Portier zwei Briefe. «Nanu», sagte Fritz, setzte sich in die Halle und riss die Kuverts auf.

Das erste Schreiben lautete: «Mein lieber Junge! Ich muss, unerwartet und sofort, nach Berlin zurück. Es tut mir leid. Auf baldiges Wiedersehen. Herzliche Grüße. Dein Freund Eduard.»

Auf dem zweiten Briefbogen stand: «Mein Liebling! Wenn Du diese Zeilen liest, ist Dein Fräulein Braut durchgegangen. Sie wird es bestimmt nicht wieder tun. Sobald Du sie gefunden hast, darfst Du sie so lange an den Ohren ziehen, bis diese rechtwinklig abstehen. Vielleicht ist es kleidsam. Komme, bitte, bald nach Berlin, wo nicht nur meine Ohren auf Dich warten, sondern auch der Mund Deiner zukünftigen Gattin Hilde Hagedorn.»

Fritz stieß einen gräßlichen Fluch aus und rannte zum Portier hinüber. «Was soll das denn bedeuten?» fragte er fassungslos. «Schulze ist abgereist! Meine Braut ist abgereist! Und Tante Julchen?»

«Abgereist», sagte der Portier.

«Und Herr Kesselhuth?»

«Abgereist», flüsterte der Portier.

Hagedorn musterte das Armesündergesicht Onkel Polters. «Hier stimmt doch etwas nicht! Warum sind die vier fort? Erzählen Sie mir jetzt keine Märchen! Sonst könnte ich heftig werden!»

Der Portier sagte: «Warum die beiden Damen und Herr Kesselhuth fort sind, weiß ich nicht.»

«Und Herr Schulze?»

«Einige Gäste haben sich beschwert. Herr Schulze störe die Harmonie. Die Direktion bat ihn, abzureisen. Er trug der Bitte sofort Rechnung. Dass zu guter Letzt vier Personen abfuhren, hatten wir nicht erwartet.»

«Nur vier?» fragte Doktor Hagedorn. Er trat vor den Fahrplan, der an der Wand hing. «Ich fahre natürlich auch. In einer Stunde geht mein Zug.» Er rannte zur Treppe. Der Portier war dem Zusammenbrechen nahe. Er schleppte sich ins Büro, sank dort in einen Stuhl und meldete Karl dem Kühnen das neueste Unglück.

«Hagedorns Abreise muss verhindert werden!» behauptete der Direktor. «So ein verstimmter Millionär kann uns derartig in Verruf bringen, dass wir in der nächsten Saison die Bude zumachen können.»

Sie stiegen ins erste Stockwerk und klopften am Appartement 7. Aber Hagedorn antwortete nicht. Herr Kühne drückte auf die Klinke. Die Tür war abgeriegelt. Sie hörten es bis auf den Korridor hinaus, wie im Zimmer Schubkästen aufgezogen und Schranktüren zugeknallt wurden.

«Er packt sehr laut», sagte der Portier beklommen. Sie gingen traurig in die Halle hinunter und warteten, dass der junge Mann erschiene.

Er erschien. «Den Koffer bringt der Hausdiener zur Bahn. Ich gehe zu Fuß.»

Die beiden liefen neben ihm her. «Herr Doktor», flehte Karl der Kühne, «das dürfen Sie uns nicht antun.»

«Strengen Sie sich nicht unnötig an!» sagte Hagedorn.

An der Tür stieß er mit der Verkäuferin aus dem Blumenladen zusammen. Sie brachte die Geschenke, die er vor knapp zwei Stunden eingekauft hatte. «Ich habe mich etwas verspätet», meinte sie.

«Ein wahres Wort», sagte er.

«Der Strauß ist dafür besonders schön geworden», versicherte sie.

Er lachte ärgerlich. «Das Bukett können Sie sich ins Knopfloch stecken! Behalten Sie das Gemüse!» Sie staunte, knickste und entfernte sich eilends.

Nun stand Fritz, mit einem Zinnkrug, einer Kiste Zigarren und einem originellen Ohrgehänge, allein in Bruckbeuren!

Der Diener fragte: «Dürfen wir Sie wenigstens bitten, in Ihren Kreisen über den höchst bedauerlichen Zwischenfall zu schweigen?»

«Der Ruf unseres Hotels steht auf dem Spiele», bemerkte Onkel Folter ergänzend.

«In meinen Kreisen?» meinte Hagedorn verwundert. Dann lachte er. «Ach richtig! Ich bin Ihnen noch eine Erklärung schuldig! Sie halten mich ja für einen Millionär, nicht wahr? Damit ist es allerdings Essig. Vor meinen Kreisen ist Bruckbeuren zeitlebens sicher. Ich war bis gestern arbeitslos. Da staunen Sie! Irgend jemand hat Sie zum Narren gehalten. Guten Tag, meine Herren!» Das Portal schloss sich hinter ihm.

«Er ist gar kein Millionär?» fragte der Direktor heiser. «Glück muss der Mensch haben, Folter! Menschenskind, das junge Mädchen hat uns verkohlt? Gott sei Dank! Wir waren bloß die Dummen? Einfach tierisch!»

Der Portier winkte aufgeregt ab. Plötzlich schlug er sich vor die Stirn. Es sah aus, als wolle er einen Ochsen töten. «Grauenhaft! Grauenhaft!» rief er. «Das beste ist, wir bringen uns um!»

«Gern», erklärte der Direktor, noch immer obenauf. «Aber wozu, bittschön? Es sind einige Gäste vor der Zeit weggefahren. Und? Ein junges Mädchen hat uns auf den Besen geladen. Das kann ich verschmerzen.»

«Die Geschichte bricht uns das Genick», sagte der Portier. «Wir waren komplette Idioten!»

«Na, na», machte Karl der Kühne. «Sie tun mir unrecht.»

Onkel Folter erhob lehrhaft den Zeigefinger. «Hagedorn war kein Millionär. Aber das junge Mädchen hat nicht gelogen. Es war ein verkleideter Millionär hier! Oh, das war furchtbar! Wir sind erschossen.»

«Nun wird mir's zu bunt!» rief der Direktor nervös. «Drücken Sie sich endlich deutlicher aus!»

«Der verkleidete Millionär wurde von uns vor einer Stunde hinausgeworfen», sagte der Portier mit Grabesstimme. «Er hieß Schulze!»

Herr Kühne schwieg.

Der Portier verfiel zusehends. «Und diesen Mann habe ich die Eisbahn kehren lassen! Mit dem Rucksack mußte er ins Dorf hinunter, weil das Kind der Botenfrau die Masern hatte! Der Heltai hat ihn auf die Bockleiter geschickt! Oh.»

«Einfach tierisch!» murmelte der Hoteldirektor. «Ich muß mich legen, sonst trifft mich der Schlag im Stehen.»

*

Am Nachmittag wurde der bettlägerige Herr Kühne von einem Boy gestört.

«Eine Empfehlung vom Herrn Portier», sagte der Junge. «Ich soll Ihnen mitteilen, dass Frau Casparius mit dem Abendzug fährt.»

Der Direktor stöhnte weidwund.

«Sie käme nie wieder nach Bruckbeuren, lässt der Portier sagen. Ach so, und Herr Lenz aus Köln reist auch.»

Der Direktor drehte sich ächzend um und biß knirschend ins Kopfkissen.

Das neunzehnte Kapitel

Vielerlei Schulzes

In München hatte Doktor Hagedorn volle sechs Stunden Aufenthalt. Er gab seinen Vulkanfiberkoffer am Handgepäckschalter ab. Dann ging er über den Stachus, die Kaufingerstraße entlang, bog links ein und nahm gegenüber der Theatinerkirche Aufstellung. Damit begann jeder seiner Münchner Besuche. Er liebte diese Kirchenfassade seit der Studentenzeit.

Heute stand er hier wie die Kuh vorm neuen Tor. Er dachte immerzu an Hilde. An Eduard natürlich auch. Das Bild der Kirche drang nur bis zur Netzhaut.

Er steckte die Hände in den abgeschabten Mantel, lief in die Stadt zurück, saß, ehe er sich dessen versah, in einem Münchner Postamt und blätterte im Berliner Adressbuch. Er studierte die Rubrik «Schulze». Neben ihm lagen Notizblock und Bleistift.

Einen Werbefachmann Eduard Schulze gab es nicht. Vielleicht hatte sich Eduard als «Kaufmann» eingetragen? Hagedorn schrieb sich die einschlägigen Adressen auf. Was Hildegard anbetraf, war der Fall noch schwieriger. Welchen Vornamen hatte, um alles in der Welt, sein künftiger Schwiegervater? Und welchen Beruf? Man konnte doch unmöglich zu allen in Berlin wohnhaften Schulzes laufen und fragen: «Haben Sie erstens eine Tochter, und ist diese zweitens meine Braut?» Das war ja eine Lebensaufgabe!

Später sah sich Hagedorn ein Filmlustspiel an. So oft er lachte, ärgerte er sich. Glücklicherweise bot der Film nur wenige Möglichkeiten zum Lachen. Sonst wäre der junge Mann bestimmt innerlich mit sich zerfallen.

Anschließend aß er in einem Bräu Rostwürstchen mit Kraut. Dann begab er sich zum Bahnhof zurück und hockte, Paulaner trinkend, im Wartesaal. Er war entschlossen, kühne Einfalle für künftige Reklamefeldzüge zu finden. Es fiel ihm aber auch nicht das mindeste ein. Immerzu dachte er an Hilde. Wenn er sie nun nicht fand? Und wenn sie nichts mehr von sich hören ließ? Was dann?

Der Zug war nur schwach besetzt. Fritz hatte ein Abteil für sich allein. Bis Landshut lief er in dem Kupee wie in einem Käfig hin und her. Dann legte er sich lang, schlief sofort ein und träumte wilde Sachen.

Einer der Träume spielte auf dem Berliner Einwohnermeldeamt.

An den Türen standen, alphabetisch geordnet, alle möglichen Familiennamen. Vor dem Türschild «Schnabel bis Schütze» machte Hagedorn halt, klopfte an und trat ein.

Hinter der Barriere saß der Schneemann Kasimir. Er trug einen Schupohelm und fragte: «Sie wünschen?» Hierbei strich er sich den Schnurrbart und sah überhaupt sehr streng aus.

«Haben Sie die Schulzes unter sich»? fragte Fritz.

Kasimir sagte: «Alle Schulzen.»

«Wie kommen Sie zu diesem Plural?» fragte Fritz.

«Verfügung des Präsidiums», meinte Kasimir barsch.

«Verzeihung», sagte Fritz. «Ich suche ein Fräulein Hildegard Schulze. Wenn Sie lacht, kriegt sie ein Grübchen. Nicht zwei, wie andere Mädchen. Und in ihren Pupillen hat sie goldene Pünktchen.»

Kasimir blätterte umständlich in etlichen Karteikästen. Dann nickte er. «Die gibt's. Sie hat früher auf dem Funkturm gewohnt. Dann hat sie sich nach den Alpen abgemeldet.»

«Sie muss aber wieder in Berlin sein», behauptete Fritz.

«Dem Funkturm ist davon nichts bekannt», sagte der Schneemann. «Sie scheint überhaupt nicht zu wohnen. Vielleicht ist sie abgegeben worden. Folgen Sie mir unauffällig!»

Sie stiegen in den Keller. Hier standen in langen Reihen viele Schränke. Kasimir schloß einen nach dem anderen auf. In jedem Schrank waren vier Fächer. Und in jedem Fach stand ein Mensch. Das waren die Leute, die polizeilich nicht gemeldet waren, und andere, die total vergessen hatten, wo sie wohnten. Und schließlich Kinder, die nicht mehr wussten, wie sie hießen.

«Das ist ja allerhand», meinte Hagedorn erschrocken.

Die Erwachsenen standen verärgert oder auch versonnen in ihren Fächern. Die Kinder weinten. Es war ein ausgesprochen trauriger Anblick. In einem Fach stand ein alter Gelehrter, ein Historiker übrigens; der hielt sich für einen vergessenen Regenschirm und verlangte von Kasimir, man solle ihn endlich zumachen. Er hatte die Arme ausgebreitet und die Beine gespreizt. Und er sagte fortwährend: «Es regnet doch gar nicht mehr!»

Fritz schlug die Tür zu.

Sie hatten schon in fast alle Schränke geguckt. Aber Hildegard hatten sie noch immer nicht gefunden.

Fritz hielt plötzlich die Hand hinters Ohr. «Im letzten Schrank heult ein Fräulein!»

Der Schneemann schloß die Tür auf. In der äußersten Ecke, mit dem Rücken zum Beschauer, stand ein junges Mädchen und weinte heftig.

Hagedorn stieß einen Freudenschrei aus. Dann sagte er gerührt: «Herr Schneepo, das ist sie.»

«Sie steht verkehrt», knurrte Kasimir. «Ich sehe kein Grübchen.»

«Hilde!» rief Fritz. «Schau uns, bitte, an! Sonst musst du hier bleiben.»

Hilde drehte sich um. Das kleine hübsche Gesicht war total verheult.

«Ich sehe kein Grübchen», sagte der Schneemann. «Ich schließe wieder zu.»

«Hildchen!» rief Fritz. «Lach doch mal! Der Onkel will nicht glauben, dass du ein Grübchen hast. Tanze ihm den Sterbenden Schwan vor! Stehen Sie auf, teuerste Gräfin! Morgen versetzen wir deinen Ring und fahren für zweitausend Mark Achterbahn! Aber lache! Lache!»

Es war vergebens. Hilde erkannte ihn nicht. Sie lächelte nicht und lachte nicht. Sie stand in der Ecke und weinte.

Kasimir steckte den Schlüssel ins Türschloß. Fritz fiel ihm in den Arm. Der Schneemann packte den jungen Mann am Schöpf und rüttelte ihn.

«Unterlassen Sie das!» rief Hagedorn wütend.

«Na, na, na», sagte jemand. «Kommen Sie zu sich!»

Vor ihm stand der Zugschaffner. «Bitte, die Fahrkarten!» Und draußen dämmerte der Tag.

*

Am Morgen klingelte es bei Frau Hagedorn in der Mommsenstraße. Die alte Dame öffnete. Draußen stand Karlchen, der Lehrling des Fleischermeisters Kuchenbuch.

«Hallo!» sagte sie. «Telephoniert mein Sohn schon wieder?»

Karlchen schüttelte den Kopf. «Einen schönen Gruß von meinem Meister, und heute wäre die Überraschung noch größer als vorgestern. Und Sie sollen, bitte, nicht erschrecken. Sie bekommen Besuch.»

«Besuch?» meinte die alte Dame. «Über Besuch erschrickt man nicht! Wer kommt denn?»

Von der Treppe her rief es: «Kuckuck! Kuckuck!»

Mutter Hagedorn schlug die Hände überm Kopfe zusammen. Sie lief ins Treppenhaus und blickte um die Ecke. Eine Etage tiefer saß ihr Junge auf den Stufen und nickte ihr zu.

«Da hört sich doch alles auf!» sagte sie. «Was willst du denn in Berlin, du Lausejunge? Du gehörst doch nach Bruckbeuren! Steh auf, Fritz! Die Stufen sind zu kalt.»

«Muß ich gleich wieder zurückfahren?» fragte er. «Oder kriege ich erst 'ne Tasse Kaffee?»

«Marsch in die gute Stube», befahl sie.

Er kam langsam herauf und schlich mit seinem Koffer an ihr vorbei, als habe er Angst.

Karlchen lachte naiv und verzog sich.

Mutter und Sohn spazierten Arm in Arm in die Wohnung. Während sie frühstückten, berichtete Fritz ausführlich von den Ereignissen des Vortags. Dann las er die beiden Abschiedsbriefe vor.

«Da stimmt etwas nicht, mein armer Junge», meinte die Mutter tiefsinnig. «Du bist mit deiner Vertrauensseligkeit wieder einmal hineingefallen. Wollen wir wetten?»

«Nein», erwiderte er.

«Du bildest dir immer ein, man merkte auf den ersten Blick, ob an einem Menschen etwas dran ist oder nicht», sagte sie. «Wenn du recht hättest, müßte die Welt ein bißchen anders aussehen. Wenn alle ehrlichen Leute ehrlich ausschauten und alle Strolche wie Strolche, dann könnten wir lachen. Die schöne Reise haben sie dir verdorben. Am nächsten Ersten mußt du ins Büro. Eine Woche zu früh bist du abgereist. Man könnte mit dem Fuß aufstampfen!»

«Aber gerade deswegen hat sich Eduard wahrscheinlich nicht von mir verabschiedet!» rief er. «Er fürchtete, ich käme mit, und er wollte, ich solle in Bruckbeuren bleiben! Er dachte doch nicht, daß ich erführe, wie abscheulich man ihn behandelt hat.»

«Dann konnte er wenigstens seine Berliner Adresse dazuschreiben», sagte die Mutter. «Ein Mann mit Herzensbildung hätte das getan. Da kannst du reden, was du willst. Und warum hat sich das Fräulein nicht von dir verabschiedet? Und warum hat denn sie keine Adresse angegeben? Von einem Mädchen, das du heiraten willst, können wir das verlangen! Alles, was recht ist.»

«Du kennst die zwei nicht», entgegnete er. «Sonst würdest du das alles ebenso wenig verstehen wie ich. Man kann sich in den Menschen täuschen. Aber so sehr in ihnen täuschen, das kann man nicht.»

«Und was wird nun?» fragte sie. «Was wirst du tun?»

Er stand auf, nahm Hut und Mantel und sagte: «Die beiden suchen!»

Sie schaute ihm vom Fenster aus nach. Er ging über die Straße.

,Er geht krumm', dachte sie. ,Wenn er krumm geht, ist er traurig.' s

*

Während der nächsten fünf Stunden hatte Doktor Hagedorn anstrengenden Dienst. Er besuchte Leute, die Eduard Schulze hießen. Es war eine vollkommen blödsinnige Beschäftigung. So oft der Familienvorstand selber öffnete, mochte es noch angehen. Dann wußte Fritz wenigstens sofort, daß er wieder umkehren konnte. Er brauchte nur zu fragen, ob etwa eine Tochter namens Hildegard vorhanden sei.

Wenn aber eine Frau Schulze auf der Bildfläche erschien, war die Sache zum Auswachsen. Man konnte schließlich nicht einfach fragen: «War Ihr Herr Gemahl bis gestern in Bruckbeuren? Haben Sie eine Tochter? Ja? Heißt sie Hilde? Nein? Guten Tag!»

Er versuchte es auf jede Weise. Trotzdem hat er den Eindruck, überall für verrückt gehalten zu werden.

Besonders schlimm war es in der Prager Straße und auf der Masurenallee.

In der Prager Straße rief die dortige Frau Schulze empört: Also in Bruckbeuren war der Lump? Mir macht er weis, er käme aus Magdeburg. Hatte er ein Frauenzimmer mit? Eine dicke Rotblonde?»

«Nein», sagte Fritz. «Es war ja gar nicht Ihr Mann. Sie tun ihm unrecht.»

«Und wieso kommen Sie dann hierher? Nein, nein, mein Lieber! Sie bleiben hübsch hier und warten, bis mein Eduard nach Hause kommt! Dem werde ich helfen!»

Hagedorn mußte sich mit aller Kraft losreißen. Er floh. Sie schimpfte hinter ihm her, daß das Treppenhaus wackelte.

Ja, und bei den Schulzes auf der Masurenallee existierte eine Tochter, die Hildegard hieß! Sie war zwar nicht zu Hause. Aber der Vater war da. Er bat Fritz in den Salon.

«Sie kennen meine Tochter?» fragte der Mann.

«Ich weiß nicht recht», sagte Fritz verlegen. «Vielleicht ist sie's. Vielleicht ist sie's nicht. Haben Sie zufällig eine Photographie der jungen Dame zur Hand?»

Herr Schulze lachte bedrohlich. «Ich will nicht hoffen, daß Sie meine Tochter nur im Dunkeln zu treffen pflegen!»

«Keineswegs», erklärte Fritz. «Ich möchte nur feststellen, ob Ihr Fräulein Tochter und meine Hilde identisch sind.»

«Ihre Absichten sind doch ernst?» fragte Herr Schulze streng.

Der junge Mann nickte.

«Das freut mich», sagte der Vater. «Haben Sie ein gutes Einkommen? Trinken Sie?»

«Nein», meinte Fritz. «Das heißt, ich bin kein Trinker. Das Gehalt ist anständig. Bitte, zeigen Sie mir eine Photographie!»

Herr Schulze stand auf. «Nehmen Sie mir's nicht übel! Aber ich glaube, Sie haben einen Stich.» Er trat zum Klavier, nahm ein Bild herunter und sagte: «Da!»

Hagedorn erblickte ein mageres, häßliches Fräulein. Es war eine Aufnahme von einem Kostümfest. Hilde Schulze war als Pierrot verkleidet und lächelte neckisch. Daß sie schielte, konnte am Photographen liegen. Aber daß sie krumme Beine hatte, war nicht seine Schuld. «Allmächtiger!» flüsterte er. «Hier liegt ein Irrtum vor. Verzeihen Sie die Störung!» Er stürzte in den Korridor, geriet statt auf die Treppe in ein Schlafzimmer, machte kehrt, sah Herrn Schulze wie einen rächenden Engel nahen, öffnete glücklicherweise die richtige Tür und raste die Treppe hinunter.

Nach diesem Erlebnis fuhr er mit der Straßenbahn heim. Dreiundzwanzig Schulzes hatte er absolviert.

Er hatte noch gut fünf Tage zu tun.

*

Seine Mutter kam ihm aufgeregt entgegen: «Was glaubst du, wer hier war?»

Er wurde lebendig. «Hilde?» fragte er. «Oder Eduard?»

«Ach wo», entgegnete sie.

«Ich gehe schlafen», meinte er müde. «Spätestens in drei Tagen nehme ich einen Detektiv.»

«Tu das, mein Junge. Aber heute abend gehen wir aus. Wir sind eingeladen. Ich habe dir ein bildschönes Oberhemd besorgt. Und eine Krawatte. Blau und rot gestreift.»

«Vielen Dank», sagte er und sank auf einen Stuhl. «Wo sind wir denn eingeladen?»

Sie faßte seine Hand. «Bei Geheimrat Tobler.» Er zuckte zusammen.

«Ist das nicht großartig?» fragte sie eifrig. «Denke dir an! Es klingelte dreimal. Ich gehe hinaus. Wer steht draußen? Ein Chauffeur in Livree. Er fragt, wann du aus Bruckbeuren zurückkämst? Mein Sohn ist schon da, sage ich. Er kam heute früh an. Er verbeugt sich und sagt: ,Geheimrat Tobler bittet Sie und Ihren Herrn Sohn, heute abend seine Gäste zu sein. Es handelt sich um ein einfaches Abendbrot. Der Herr Geheimrat möchte seinen neuen Mitarbeiter kennenlernen.' Dann druckste er ein bißchen herum. Endlich meinte er: ,Kommen Sie, bitte, nicht in großer Toilette. Der Geheimrat mag das nicht besonders. Ist Ihnen acht Uhr abends recht?' Ein reizender Mensch. Er wollte uns im Auto abholen. Ich habe aber gesagt, wir führen lieber mit der Straßenbahn. Die 176 und die 76 halten ja ganz in der Nähe. Und große Toiletten, habe ich gesagt, hätten wir sowieso nicht. Da brauchten sie keine Bange zu haben.» Sie sah ihren Sohn erwartungsvoll an.

«Da müssen wir ja wohl hingehen», meinte er.

Frau Hagedorn traute ihren Ohren nicht. «Deinen Kummer in allen Ehren, mein Junge», sagte sie dann. «Aber du solltest dich wirklich ein bißchen zusammennehmen!» Sie fuhr ihm sanft übers Haar. «Kopf hoch, Fritz! Heute gehen wir zu Toblers! Ich finde es sehr aufmerksam von dem Mann. Eigentlich hat er es doch gar nicht nötig, wie? Ein Multimillionär, der einen Konzern besitzt, sicher hat er tausend Angestellte. Wenn der mit allen Angestellten Abendbrot essen wollte! Es ist schließlich eine Ehre. Heute erledigen wir das Geschäftliche. Ich ziehe das Schwarzseidene an. Eine alte Frau braucht nicht modern herumzulaufen. Wenn ich ihm nicht fein genug bin, kann ich ihm auch nicht helfen.»

«Natürlich, Muttchen», sagte er.

«Siehst du wohl», meinte sie. «Zerbrich dir wegen deiner zwei Schulzes nicht den Kopf, mein Junge! Morgen ist auch noch ein Tag.»

Er lächelte bekümmert. «Und was für ein Tag!» sagte er. Dann ging er aus dem Zimmer.

Das zwanzigste Kapitel

Das dicke Ende

Fritz Hagedorn und seine Mutter folgten dem Diener, der ihnen das Parktor geöffnet hatte. Zwischen den kahlen Bäumen schimmerten in regelmäßigen Abständen große Kandelaber. Auf der Freitreppe flüsterte die Mutter: «Du, das ist ja ein Schloss!»

In der Halle nahm ihnen der Diener die Hüte und die Mäntel ab. Er wollte der alten Dame beim Ausziehen der Überschuhe behilflich sein. Sie setzte sich, drückte ihm den Schirm in die Hand und sagte: «Das fehlte gerade noch!»

Sie stiegen ins erste Stockwerk. Er schritt voraus. In einer Treppennische stand ein römischer Krieger aus Bronze. Mutter Hagedorn deutete hinüber. «Der passt auf, dass nichts wegkommt.»

Der Diener öffnete eine Tür. Sie traten ein. Die Tür schloss sich geräuschlos. Sie standen in einem kleinen Biedermeiersalon. Am Fenster saß ein Herr. Jetzt erhob er sich.

«Eduard!» rief Fritz und stürzte auf ihn los. «Gott sei Dank, dass du wieder da bist! Der olle Tobler hat dich auch eingeladen? Das finde ich ja großartig. Mutter, das ist er! Das ist mein Freund Schulze. Und das ist meine Mutter.»

Die beiden begrüßten sich. Fritz war aus dem Häuschen. «Ich habe dich wie eine Stecknadel gesucht. Sag mal, stehst du überhaupt im Adressbuch? Und weißt du, wo Hilde wohnt? Schämst du dich denn gar nicht, dass du mich in Bruckbeuren hast sitzen lassen? Und wieso sind Hilde und Tante Julchen mitgefahren? Und Herr Kesselhuth auch? Einen schönen Anzug hast du an. Auf Verdacht oder auf Vorschuss, wie?» Der junge Mann klopfte seinem alten Freund fröhlich auf die Schulter.

Eduard kam nicht zu Worte. Er lächelte unsicher. Sein Konzept war ihm verdorben worden. Fritz hielt ihn noch immer für Schulze! Es war zum Davonlaufen!

Mutter Hagedorn setzte sich und zog einen Halbschuh aus. «Es gibt anderes Wetter», sagte sie erläuternd. «Herr Schulze, ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Einen hätten wir also, mein Junge. Das Fräulein Braut werden wir auch noch finden.»

Es klopfte. Der Diener trat ein. «Fräulein Tobler lässt fragen, ob die gnädige Frau vor dem Essen ein wenig mit ihr plaudern möchte.»

«Was denn für eine gnädige Frau?» erkundigte sich die alte Dame.

«Wahrscheinlich sind Sie gemeint», sagte Eduard.

«Das wollen wir aber nicht einführen», knurrte sie. «Ich bin Frau Hagedorn. Das klingt fein genug. Na schön, gehen wir plaudern. Schließlich ist das Fräulein die Tochter eures Chefs.» Sie zog ihren Schuh wieder an, schnitt ein Gesicht, nickte den zwei Männern vergnügt zu und folgte dem Diener.

«Warum bist du denn schon wieder in Berlin?» fragte Eduard.

«Erlaube mal!» sagt Fritz beleidigt. «Als mir der Türhüter Folter mitteilte, was vorgefallen war, gab es doch für Hagedorn keinen Halt mehr.»

«Die Casparius ließ mir durch den Direktor zweihundert Mark anbieten, falls ich sofort verschwände. »

«So ein freches Frauenzimmer», meinte Fritz. «Sie wollte mich verführen. Das liegt auf der Hand. Du warst ihrem Triebleben im Wege. Menschendkind, die wird Augen gemacht haben, als ich weg war!» Er sah seinen Freund liebevoll an. «Dass ich dich erwischt habe! Nun fehlt mir nur noch Hilde. Dann ist das Dutzend voll. - Warum ist sie eigentlich auch getürmt? Hat sie dir ihre Adresse gegeben?»

Es klopfte. Die Tür zum Nebenzimmer öffnete sich. Der Diener erschien und verschwand. Eduard stand auf und ging hinüber. Fritz folgte vorsichtig.

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