Die Stimme Wolfgang Borcherts

Diese Auswahl ist für diejenigen bestimmt, die jetzt so alt sein mögen, wie Wolfgang Borchert war, als er zum erstenmal im Militärgefängnis saß. Die Briefe des zwanzigjährigen Soldaten Wolfgang Borchert waren als staatsgefährdend erkannt, Borchert war zum Tode verurteilt worden, und man ließ den Verurteilten sechs Wochen lang in der Zelle warten, ehe man ihn begnädigte. Zwanzig Jahre alt sein, sechs Wochen lang in der Zelle hocken und wissen, dass man sterben soll, sterben einiger Briefe wegen, in denen man seine Meinung über Hitler und den Krieg geschrieben hatte. Die zwanzigjährigen, die dieses kleine Buch in die Hand nehmen, mögen daran erkennen, wie kostspielig die eigene Meinung sein kann, wie hoch der Preis, den man dafür ansetzen muss...

Später wurde der vierundzwanzigjährige Borchert noch einmal für neun Monate eingesperrt, einiger Witze wegen, die er erzählt hatte: die Briefe eines Zwanzigjährigen, die Witze eines Vierundzwanzigjährigen zu rächen, musste der ganze verlogene Rechtsapparat in Bewegung gesetzt werden. So empfindlich sind die totalen Staaten: sie vertragen die Nadelstiche der Freiheit nicht: ihre Antwort ist Mord. Wolfgang Borchert war achtzehn Jahre alt, als der Krieg ausbrach, vierundzwanzig, als er zu Ende war. Krieg und Kerker hatten seine Gesundheit zerstört, das übrige tat die Hungersnot der Nachkriegsjahre, er starb am 26. November 1947, sechsundzwanzig Jahre alt. Zwei Jahre blieben ihm zu schreiben, und er schrieb in diesen beiden Jahren, wie jemand im Wettlauf mit dem Tode schreibt; Wolfgang Borchert hatte keine Zeit, und er wusste es. Er zählt zu den Opfern des Krieges, es war ihm...nur eine kurze Frist gegeben, um den Überlebenden ... zu sagen, was die Toten des Krieges, zu denen er gehört, nicht mehr sagen konnten: dass alle ihre glatten Worte die schlimmsten ihrer Lügen sind. Das törichte Pathos der Fahnen, das Geknalle der Salutschüsse und der fade Heroismus der Trauermärsche – dass alles ist so gleichgültig für die Toten...Die Wahrheit des Dichters, Borcherts Wahrheit ist, dass alle Schlachten, die gewonnene und die verlorene, Gemetzel waren, dass für die Toten die Blumen nicht mehr blühen, kein Brot mehr für sie gebacken wird, der Wind nicht mehr für sie weht; dass ihre Kinder Waisen, ihre Frauen Witwen sind und die Eltern um ihre Söhne trauern...

Im Dialog Beckmanns mit dem anonymen Obersten in „ Draußen vor der Tür“ wird Rechenschaft gefordert, Rechenschaft nur für elf, elf Väter, Söhne, Brüder, elf von vielen Millionen - aber Beckmann bekommt keine Antwort ...Es ist viel von „ Aufschrei Borcherts“ geschrieben und gesagt worden, und die Bezeichnung „Aufschrei" wurde mit der Gelassenheit geprägt...Die Dichter ...sind immer betroffen, und niemand nimmt ihnen die Last ab, die auch die Last des jungen Borchert war, diese Betroffenheit in einer Form auszudrücken, die wie Gelassenheit erscheinen mag... Borcherts Erzählung „Brot“ mag als Beispiel dienen: sie ist Dokument, Protokoll des Augenzeugen einer Hungersnot, zugleich aber ist sie eine meisterhafte Erzählung, kühl und knapp, kein Wort zu wenig, kein Wort zuviel — sie lässt uns ahnen, wozu Borchert fähig gewesen wäre: diese kleine Erzählung wiegt viele gescheite Kommentare über die Hungersnot der Nachkriegsjahre auf, und ist mehr noch als das: ein Musterbeispiel für die Gattung Kurzgeschichte, die nicht mit novellistischen Höhepunkten und der Erläuterung moralischer Wahrheiten erzählt, sondern erzählt, indem sie darstellt. Die „Helden“ dieser Geschichte sind recht alltäglich: ein altes Ehepaar, neununddreißig Jahre miteinander verheiratet. Und der „Streitwert“ in dieser Geschichte ist gering (und doch so gewaltig, wie ihn die Augenzeugen der Hungersnot noch in Erinnerungen haben mögen): eine Scheibe Brot. Die Erzählung ist kurz und kühl. Und doch ist das ganze Elend und die ganze Größe des Menschen mit aufgenommen...

Diese kleine Erzählung und der Dialog Beckmanns mit dem Obersten allein weisen Borchert als einen Dichter aus, der unvergesslich macht, was die Geschichte so gern vergisst: Die Reibung, die der einzelne zu ertragen hat, indem er Geschichte macht und sie erlebt. Ein Strich über Generalstabskarte, das ist ein marschierendes Regiment; eine Stecknadel mit rotem, grünem, blauem oder gelbem Kopf ist eine kämpfende Division: man beugt sich über Karten, steckt Fähnchen, Nadeln, errechtet Koordinaten... Für den einzelnen jedoch hat es nie taktische Zeichen gegeben: ein alter Mann, der sich heimlich in der Nacht eine Scheibe Brot abschneidet - seine Frau, die ihm eine Scheibe Brot schenkt. Elf Gefallene: Männer und Brüder, Söhne, Väter und Gatten - die Geschichte geht achselzuckend darüber hinweg...Ein Name in den Büchern „Stalingrad“ oder „Versorgungskrise“ - Wörter, hinter denen die einzelnen verschwinden. Sie ruhen nur im Gedächtnis des Dichters, im Gedächtnis Wolfgang Borcherts, der nicht gelassen sein konnte.

ERWIN STRITTMATTER

(1912-1994)

Erwin Strittmatter gehört zu den Schriftstellern, die nicht aus dem Proletariat aufstiegen, sondern mit dem Proletariat. Er ist der Sohn eines Landarbeiters aus der Niederlausitz, durchlief viele Berufe, war Landarbeiter, Bäcker, Pelzfarmer und so weiter, wurde nach 1945 Bürgermeister auf dem Dorf, Volkskorrespondent, Schriftsteller. „Ohne die Deutsche Demokratische Republik wäre er nicht nur der Schriftsteller geworden, der er ist, sondern vermutlich überhaupt kein Schriftsteller“. Mit diesen Worten kennzeichnete Bertolt Brecht die Entwicklung Strittmatters als eines sozialistischen Schriftstellers. Eine innige Freundschaft verband E. Strittmatter mit dem großen deutschen Dichter und Dramatiker B. Brecht. E. Strittmatter erzählt mehrere Episoden aus Brechts Leben, er schreibt über ihn oft mit Humor, immer aber mit Liebe und Verehrung .

E. Strittmatter wuchs an einem Niederlausitzer Dorf auf, besuchte bis seinem 16. Lebensjahr das Realgymnasium, danach erlernte er das Bäckerhandwerk. Die weiteren Jahre der Arbeit in verschiedenen Berufen brachten dem zukünftigen Schriftsteller gute Menschenkenntnis und weite Lebenserfahrungen.

1934 war er wegen Widersetzlichkeit gegen das faschistische Regime in Deutschland kurze Zeit verhaftet. Später wurde er Soldat der Hitlerwehrmacht und desertierte gegen Ende des Krieges. 1945 kehrte E. Strittmatter in seinen Heimatort zurück.

Früh versuchte sich E. Strittmatter als Schriftsteller. Ab 1947 war er Volkskorrespondent einer Zeitung, dann Zeitungsredakteur und letzten Endes wurde er freischaffender Schriftsteller. Bertolt Brecht bemerkte den jungen Autor und förderte ihn.

1959 wurde E. Strittmatter zum ersten Sekretär des Deutschen Schriftstellerverbandes. Später wurde der weit bekannte und viel gelesene Schriftsteller Erwin Strittmatter Vizepräsident des Schriftstellerverbandes der DDR, Mitglied der Deutschen Akademie der Künste, ein mit mehreren Nationalpreisen geehrter Autor.

Das Zentralproblem im Werk von E. Strittmatter ist die demokratische und sozialistische Umgestaltung des Lebens auf dem Lande. Sein erstes Buch, das bereits die sprachliche Gestaltungskraft des Autors zeigte, ist ein bäuerlich-proletarischer Entwicklungsroman „Der Ochsenkutscher“ (1950). Die Handlung entwickelt sich auf einem Gutshof der Niederlausitz und schildert den Lebensweg eines Dorfjungen, der in mehreren Hinsichten stark autobiographisch erscheint. Aber nicht allein das menschliche Schicksal erfasst der Roman, sondern zugleich die Klassenverhältnisse auf dem Lande in der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts bis zum Anbruch des Faschismus in Deutschland.

Acht Jahre später veröffentlichte Strittmatter die vieraktige Verskomödie „Katzgraben. Szenen aus dem Bauernleben“ (1954). Der Titel selbst erläutert das Thema. Die Komödie wurde von B. Brecht im „Berliner Ensemble“ inszeniert. Der Autor behandelt hier menschliche und gesellschaftliche Konflikte der ersten Nachkriegsjahre, die nach der Bodenreform entstanden waren.

Probleme, die mit diesem Thema verknüpft waren, ließen E. Strittmatter auch weiter nicht ruhig leben, und fünf Jahre später veröffentlicht er vier neue Szenen hinzu, eine Fortsetzung unter dem Titel „Katzgraben 1958", in denen er die Weiterentwicklung und Umgestaltung des Lebens auf dem Lande berücksichtigte.

Der 1954 erschienene Roman „Tinko“ gehört zu den bedeutenden künstlerischen Leistungen E. Strittmatters. Aus der Sicht und am Schicksal eines jugendlichen Helden sind die revolutionären Veränderungen in einem Dorf in den Jahren 1948—1949 dargestellt. Die menschlichen Schicksale sind im Roman eindrucksvoll geschildert.

Dem Roman „Tinko“ folgte der erste Teil des grossangelegten Entwicklungsroman „Der Wundertäter“ (1957). Hier schildert E. Strittmatter die Irr- und Umwege eines deutschen Kleinbürgers Stanislaus Büdner. Die Handlung beginnt am Anfang des Jahrhunderts und dauert bis kurz vor Ende des faschistischen Krieges. Das Realistische und das Phantastische sind hier tief mineinander geflochten, einen großen Sinn hat der Titel „Wundertäter“. Viele einzelne Geschichten bilden insgesamt ein kritisches Gesellschaftspanorama unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Kleinbürgertums. Am Ende des ersten Teils steht der Held am Anfang eines neuen Lebens. Bildhafte Anschaulichkeit, originelle schöpferische Sprachkraft, Humor und echte Volkstümlichkeit machen das Buch zu einer hervorragenden Erscheinung der deutschsprachigen Literatur.

Das zweite Drama von Strittmatter, „Die Holländerbraut“, ebenso wie auch „Katzgraben“, ist in gehobener Verssprache geschrieben (1961): am Schicksal eines Mädchens, einer Tagelöhnertochter, wird gezeigt, dass menschliche Beziehungen und Klassenfragen, d. h. das Politische und das Private fest verknüpft und voneinander nicht zu trennen sind.

Danach folgte der Roman „Ole Bienkopp“ (1963), der Gegenstand vieler Diskussionen. Hier griff Strittmatter erneut die ländlich-bäuerliche Thematik auf. An der Lebensgeschichte des Helden — eines eigenwilligen kommunistischen Bauern, der unermüdlich für den Fortschritt tätig ist — gestaltet Strittmatter mit schöpferischer Unduldsamkeit und Parteilichkeit Konflikte, die in der sozialistischen Gesellschaft vorkommen und gelöst werden. Sein Held Ole Bienkopp gehört zu den einprägsamsten Gestalten des realistischen Dorfromans in der sozialistischen Literatur.

Ein besonderes Kapitel in Strittmatters Schaffen ist der „Schulzenhofer Kramkalender“ (1966), eine in präziser poetischer Sprache geschriebene Sammlung von Erinnerungen, Impressionen, Episoden und Betrachtungen, vorwiegend aus dem Umkreis des alltäglichen Lebens auf dem Lande.

Kalendergeschichten gehören der alten Tradition, dem volkstümlichen deutschen Schriftentum aus dem 16. Jahrhundert. E. Strittmatter ist nicht der erste deutsche Schriftsteller, der Kalendergeschichten schreibt, auch vor ihm benutzte man in der deutschen Literatur dieses eigenartige literarische Genre.

Im 17. Jahrhundert erscheint der „Ewigwährende Kalender“ (1670) von Grimmelshausen. Johann Peter Hebel schreibt sein „Schatzkästlein des rheinländischen Hausfreundes“ (1811), eine Sammlung von Anekdoten und Kurzgeschichten erzieherischer und aufklärerischer Art, die für das Bürgertum gemeint waren. Fast in derselben Zeit schreibt kurze Geschichten auch der bekannte Meister der deutschen Sprache Heinrich Kleist. Und im 20. Jahrhundert tritt in diesem alten Genre der große deutsche Dichter Bertolt Brecht auf. Seine „Kalendergeschichten“ sind ihrer Form nach der alten Tradition treu, ihrem Inhalt nach aber sind diese Geschichten von ernsthaftem politisch-gesellschaftlichem und theoretisch-künstlerischem Sinn.

Im „Schulzenhofer Kramkalender“ von E. Strittmatter findet die klassische Kalendergeschichte ihre Weiterentwicklung. Der „Schulzenhofer Kramkalender“ enthält 200 Kurzerzählungen, in denen alte Traditionen der deutschen Kalendergeschichte zu Tage treten. Es sind lustige und traurige Lebensgeschichten, Parabeln, feine Naturschilderungen, Memoiren des Schriftstellers. Unter dem Kleinen ist hier das Große verborgen, der Leser spürt eine schöpferische Auseinandersetzung des Künstlers mit seiner Umwelt. Die Miniaturen von Strittmatter regen zum Nachdenken über die brennenden Probleme der Gegenwart, zur philosophischen Auffassung des Verhältnisses „Mensch — Natur“ an.

Eine eigenartige Fortsetzung des Kramkalenders, auch in der Kurzprosaform geschrieben, sind die späteren Bände: „Ein Dienstag im September—16 Romane im Stenogramm“ (1970) und „3/4 Kleingeschichten“ (1971) — ein Stück naturhafter Poesie des sozialistischen Alltags. Hier sind Erläuterungen und Beobachtungen von Veränderungen in der gesellschaftlichen Entwicklung (wissenschaftlich-technische Revolution, große Umweltprobleme, die Beziehungen zwischen dem Menschen und der Natur u. a.) erläutert.

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