Schulaufbau in der Bundesrepublik Deutschland
Seiner geschichtlichen Herkunft nach war das allgemeinbildende Schulwesen in Deutschland durch das Prinzip der vertikalen Gliederung geprägt. Am Ende des 19. Jahrhunderts standen nebeneinander die drei Schularten Volksschule, Mittelschule und Gymnasium, die jeweils bestimmten sozialen Schichten zugeordnet waren und sich nach den Eingangsvoraussetzungen, der Besuchsdauer und der Vermittlung von Qualifikationen und gesellschaftlichen Chancen voneinander unterschieden. Die Möglichkeit des Übergangs zwischen den Schulformen war begrenzt, so daß die einmal getroffene Wahl des Bildungsweges in der Regel für die gesamte Schullaufbahn des einzelnen Schülers verbindlich blieb.
Die Weimarer Verfassung von 1919 durchbrach mit der Einführung der gemeinsamen vierjährigen Grundschule erstmals das Prinzip der Vertikalität, das im übrigen aber auch in den Anfangsjahren der Bundesrepublik noch unverändert fortbestand. Erst in den sechziger Jahren führten veränderte Qualifikationsansprüche in Verbindung mit der politischen Forderung nach Chancengleichheit im Bildungssystem zu Ansätzen einer Reform, als deren weitestgehender Entwurf der 1970 vom Deutschen Bildungsrat vorgelegte „Strukturplan für das Bildungswesen" anzusehen ist.
Die Empfehlungen des Bildungsrates setzen an die Stelle des vertikalen Nebeneinanders verschiedener Schulformen eine fünffache horizontale Gliederung des gesamten Schulwesens. Eine Differenzierung innerhalb des als Einheit verstandenen Bildungssystems erfolgte lediglich nach Altersstufen und in bestimmten Lernphasen nach Leistung und Interesse der Schüler. So umfaßte der Schulaufbau: 1. den Elementarbereich mit Kindergarten und Vorschule; 2. den auf sechs Jahre erweiterten Primarbereich; 3. die Sekundarstufe I, die allen Schülern bis zum 16. Lebensjahr eine gemeinsame Grundbildung vermitteln und zu einem ersten qualifizierten Abschluß führen sollte; 4. die Sekundarstufe II als Zusammenfassung aller Bildungsgänge nach Abschluß der Schulpflicht, einschließlich der beruflichen Ausbildung, mit weitgehend differenzierten und spezialisierten Lernangeboten und Abschlußmöglichkeiten; 5. den tertiären (Hochschul-) Bereich.
Nur einige Elemente der Reform wurden im Lauf der siebziger Jahre in die Schulpraxis umgesetzt, so unter anderem die formale Gliederung des Schulwesens nach horizontalen Stufen, die Umgestaltung der Sekundarstufe II, in einigen Bundesländern auch die Einführung der Gesamtschule als integrierter Schulform. Andere Reformforderungen, soweit sie als Gefährdung des Bestands der herkömmlichen Schulformen oder des dualen Systems der Berufsausbildung verstanden wurden, scheiterten an heftigen politischen Widerständen.
(C; Erich Schmidt Verla |
Das Abitur: Pauken - nicht denken
Das heutige Gymnasium, besonders die Oberstufe, ist in meinen Augen ein einziger Skandal. Was früher einmal darauf gerichtet war, dem Schüler möglichst viel Wissen auf vielen Gebieten, sprich Allgemeinbildung, zu vermitteln, ist von einer dilettantenhaft geführten Schulpolitik skrupellos mißbraucht worden. Das Produkt hiervon ist die Heranzüchtung von „Fachidioten". Der Lehrstoff in der gymnasialen Oberstufe ist so konzipiert, daß der Schüler von immer weniger Fächern immer mehr lernen muß. Ist denn das Gymnasium eine Mini-Universität? Unsere Schule darf nicht noch einmal reformiert werden! Eine Reform dieser Art zu reformieren, wäre genauso unsinnig, wie einen Ochsen zu melken. Klaus Müller-Engstfeld, Abiturient, Düsseldorf
Durch die reformierte Oberstufe haben viel mehr Schüler die Möglichkeit erhalten, ein gutes Abitur zu erzielen, da sie die Leistungskurse auf Grund ihrer Neigungen und Interessen wählen sowie bestimmte ungeliebte Fächer abwählen oder nur zwei Semester belegen können. Dies schafft einen erheblichen Motivationszuwachs. Sicherlich ist damit auch ein Verlust an Allgemeinbildung und eine frühzeitige Spezialisierung gegeben, ob aber dies den ..Wert" des neuen Abiturs mindert, läßt sich erst feststellen, wenn die jetzigen Abiturienten ihr Studium hinter sich haben und im Berufsleben stehen.
Formal ist an der reformierten Oberstufe als vorteilhaft anzusehen, daß die schriftliche Prüfung auf drei Tage begrenzt ist und daß die eigentliche Abiturprüfung nur noch ein Drittel für die Gesamtqualifikation zählt.
Herbert Härle, Abiturient, Bad Buchau
Als Vater von fünf Kindern, die ihre schulische Ausbildung nacheinander in England, der Schweiz und auf schleswig-holsteinischen Gym- 40 nasien erhalten haben oder noch erhalten, bin ich gegen die Studienstufe; denn sie hat den früher bis zum Abitur bestehenden Klassenverband zerstört, was nicht nur von meinen eigenen Kindern, sondern auch von anderen durch 45 mich befragten Jugendlichen sehr bedauert wird, und sie hat eine schädliche Belastung für das Familienleben und die Führung des Haushalts durch die ohnehin geplagte Mutter zur Folge, besonders wenn ein längerer Schulweg 50 zurückzulegen ist. Die Kinder haben teils vormittags, teils nachmittags Unterricht und kommen zu sehr unterschiedlichen Zeiten nach Hause.
Die Allgemeinbildung kommt in der Oberstufe 55 und im Abitur zu kurz. Dafür hat der Unterricht in den Naturwissenschaften im allgemeinen Ausmaße angenommen, die weit über die Grenzen einer guten Allgemeinbildung hinausgehen. Mir scheint, daß dieses Zuviel naturge- 60 maß zu Lasten der eigentlichen allgemeinbildenden Fächer geht. Ich würde nicht die Folge ziehen, daß die Abiturienten heutzutage „dümmer" sind als ihre Eltern. Sie sind vielmehr die unschuldigen Opfer verfehlter Refor- 65 men, die mir dringend reformbedürftig zu sein scheinen.
Dr. Franz Breer, Aumühle
НА I. Lesen Sie die Texte durch und schlagen Sie die unbekannten Wörter nach.
II. Unterstreichen Sie die Schlüsselwörter in den drei Leserbriefen.
III. Zum Textverständnis
- Leserbrief 1
1. Was ist das heutige Gymnasium?
2. Was sollte das Gymnasium früher?
3. Wie ist die Schulpolitik?
4. Welches Resultat hat die Schulpolitik?
5. Was verlangt der Lehrstoff in der Oberstufe?
6. Was will das Gymnasium sein?
7. Welchen Versuch darf man nicht machen?
- Leserbrief 2
8. Welche Möglichkeit hat die reformierte Oberstufe vielen Schülern gegeben?
9. Warum können sie heute leichter ein gutes Abitur machen?
10. Was geht damit wahrscheinlich verloren?
11. Welches ist das andere Resultat?
12. Wann wird man feststellen können, ob das heutige Abitur sinnvoller ist?
13. Worin besteht ein anderer Vorteil der reformierten Oberstufe?
- Leserbrief 3 »
14. Wo haben die Kinder des Briefschreibers Schulen besucht?
15. Warum ist der Verfassergegen die reformierte Oberstufe?
16. Welche Konsequenzen beklagt er für das Familienleben?
17. Wie beschreibt er die Folgen der Schulreform fürdie Allgemeinbildung?
18. Was denkt er über die Rolle der Naturwissenschaften?
19. Welche Folgerung zieht der Autor nicht?
20. Wie beurteilt er die Schulreform?
IV. Wie sehen die drei Autoren die reformierte Oberstufe?
<ft>
Ä
positiv negativ
Leserbrief 1 ........ Skandal
dilettantenhafte Schulpolitik
Leserbrief 2.......... .......
Leserbrief 3.......... .......
V. Fragen zum Inhalt
1. Worin sehen Sie allgemein die Aufgabe der Schule?
2. Welche Fähigkeiten soll die Schule entwickeln?
3. Für welche Fähigkeiten und Fertigkeiten ist die Beherrschung eines umfangreichen Wissens nötig?
4. Was denken Sie über die reformierte Oberstufe?
VI. Nehmen Sie zu einer der beiden folgenden Fragen Stellung:
1. Wo gibt es Beziehungen zwischen dem allgemeinen Entwicklungsstand eines Landes und seinem Schulsystem?
2. Sollte man in der Schule möglichst früh mit dem Berufsleben bekanntgemacht werden? Auf welche Weise?
Zeichnung: Walter Kurowsk» D. Forte