Text 3. Das Ermittlungsverfahren
Strafanzeige und Strafantrag
Das Verfahren beginnt oft mit der Erstattung einer Strafanzeige bei der Polizei. Sie ermittelt im Auftrag der Staatsanwaltschaft, bei der Sie die Straftat auch direkt anzeigen können. Damit diese beiden Behörden prüfen können, ob eine Straftat vorliegt, ist es notwendig, dass Sie ihnen schildern, was Ihnen zugestoßen ist und – wenn Sie es wissen – wer es war. Diese Ermittlungen führt meistens die Polizei durch. Deshalb ist im Folgenden immer von der Polizei die Rede. Die Staatsanwaltschaft, in deren Auftrag die Polizei arbeitet, kann die Ermittlungen aber auch selbst durchführen.
Je früher die Polizei von einer Straftat erfährt, desto schneller kann sie handeln und findet vielleicht mehr Spuren, die die Straftat beweisen können. Eine Anzeige kann man entweder schriftlich erstatten oder einfach zu jeder Polizeidienststelle hingehen und sie dort aufschreiben lassen. Wenn es weitere Zeuginnen und Zeugen gibt, die man kennt, sollte man sie gleich mit Namen und Adressen benennen. Falls es bereits Untersuchungsberichte oder Atteste von einem Arzt gibt, muss man sie am besten gleich mitbringen. Sonstige wichtige Beweismittel sind Reste von Blut oder anderen Körperflussigkeiten des oder der Tatverdächtigen, die sich an Ihrer Kleidung befinden können. Wenn Sie noch die Sachen haben, die Sie während der Tat anhatten, bitte nicht waschen, sondern gleich in eine Tüte packen und der Polizei geben.
Die Aussage im Ermittlungsverfahren
Wenn genug Anhaltspunkte fur eine strafbare Handlung vorliegen, leitet die Polizei oder die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren ein. Sie ist dazu gesetzlich verpflichtet. Die erste Ermittlungsmaßnahme ist meistens die Vernehmung der Opfer einer Straftat. Selbst von der Tat betroffen, sind Sie zugleich Zeugin oder Zeuge. Das bedeutet, dass Sie am Strafverfahren beteiligt sind und neben eigenen Rechten auch bestimmte Pflichten haben. Als Zeugin oder Zeuge müssen Sie die Wahrheit sagen.
Am Anfang erklärt Ihnen die Polizeibeamtin oder der -beamte genau den Ablauf der Vernehmung, Ihre Rechte und Pflichten. Dann werden Sie gebeten, das Geschehene zusammenhängend zu erzählen. Erst danach werden Ihnen einzelne Fragen zum Tathergang gestellt.
Am Ende wird Ihnen das Vernehmungsprotokoll mit Ihrer gesamten Aussage zum Lesen und Unterschreiben vorgelegt. Wenn etwas nicht richtig aufgeschrieben wurde, ist es wichtig, dass Sie es sagen, damit es später nicht zu Missverständnissen kommt. Unter bestimmten Voraussetzungen kann und soll die Vernehmung bei der Polizei auf Video aufgezeichnet werden. Das wird von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich entschieden. Kommt es zu einer Videoaufzeichnung, kann sie die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung erleichtern.
Neben den schon genannten Ermittlungen führt die Polizei weitere Maßnahmen durch, um den Tathergang zu ermitteln. Falls noch andere Zeuginnen und Zeugen vorhanden sind, werden auch sie vernommen. Besonders wichtig ist die Sicherung eventuell vorhandener Spuren, die der oder die Tatverdächtige hinterlassen hat. Das können zum Beispiel körperliche Verletzungen sein, die er oder sie Ihnen zugefügt hat.
Was passiert mit dem Täter oder der Täterin?
Während Sie sich Ihnen vielleicht sicher sind, wer der Täter oder die Täterin ist, und wissen, was er oder sie getan hat, müssen Polizei, Staatsanwaltschaft – und später das Gericht – es erst noch heraus finden. Ein möglicher Täter oder eine mögliche Täterin wird deshalb bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft während des Ermittlungsverfahrens als Tatverdächtiger bzw. Tatverdächtige oder Beschuldigter bzw. Beschuldigte bezeichnet und bei Gericht als Angeklagter oder Angeklagte, bis ihm oder ihr seine oder ihre Schuld ohne Zweifel nachgewiesen werden kann. Als Täter bzw. Täterin oder Verurteilter bzw. Verurteilte wird er oder sie erst danach bezeichnet. Im Folgenden können die Begriffe also je nach Verfahrenabschnitt wechseln.
Auch der oder die Beschuldigte wird von der Polizei vernommen. Ihm oder ihr wird mitgeteilt, welche Tat ihm oder ihr vorgeworfen wird und nach welchen Gesetzen dieses Verhalten strafbar ist. Anders als Zeuginnen und Zeugen, die nur unter bestimmten Voraussetzungen nicht zur Aussage verpflichtet sind, können Beschuldigte selbst entscheiden, ob sie sich zum Tatvorwurf äußern wollen. Das ist so, weil nach der Verfassung kein Mensch dazu gezwungen werden darf, sich selbst zu belasten. Außerdem kann der oder die Beschuldigte jederzeit einen Verteidiger oder eine Verteidigerin verlangen. Vor der Vernehmung wird der oder die Beschuldigte unter Umständen erkennungsdienstlich behandelt. Das bedeutet, er oder sie wird fotografiert, die Größe wird gemessen und es werden Fingerabdrücke genommen. Diese Maßnahmen können auch gegen den Willen des oder der Beschuldigten durchgeführt werden. Unter bestimmten Voraussetzungen können ihr oder ihm auch Blut- oder Speichelproben entnommen werden. Die kann man dann mit den Spuren vergleichen, die sich zum Beispiel auf Ihrer Kleidung befinden.
Vor allem bei schweren Straftaten wird regelmäßig geprüft, ob der oder die Beschuldigte während des Strafverfahrens in Untersuchungshaft kommt. Dafür müssen insbesondere ein starker Tatverdacht und ein Haftgrund vorliegen. Ein Haftgrund ist zum Beispiel gegeben, wenn zu befürchten ist, dass sich Beschuldigte dem Strafverfahren durch Flucht entziehen, dass sie ähnliche Taten wiederholen werden oder dass sie versuchen, Sie oder andere Zeuginnen oder Zeugen zu ihrem Vorteil zu beeinflussen.
Zu einer persönlichen Begegnung zwischen Ihnen und dem oder der Beschuldigten wird es während der Vernehmungen im Ermittlungsverfahren wahrscheinlich nicht kommen. Wenn sich nach der Beschuldigtenvernehmung neue Fragen ergeben, lesen die Beamtinnen oder Beamten Ihnen die betreffenden Aussagen vor und bitten Sie, etwas dazu zu sagen. Falls es nötig ist, dass Sie der Polizei den Beschuldigten oder die Beschuldigte noch mal genau zeigen, reicht es meistens, sich Fotos anzusehen. Manchmal werden auch zwei Räume für eine Gegenüberstellung benutzt: In dem einen steht der oder die Beschuldigte – eventuell neben ähnlich aussehenden Vergleichspersonen –, in dem anderen Raum stehen Sie. Dazwischen ist ein Glasfenster, das auf einer Seite verspiegelt ist. So können Sie den Beschuldigten oder die Beschuldigte im anderen Raum erkennen, ohne dass er oder sie Sie sehen kann. So ein Spiegelfenster heißt Venezianischer Spiegel.
Die Arbeit der Staatsanwaltschaft
Wenn die Polizei ihre Arbeit beendet hat, fasst sie alle Ermittlungsergebnisse in einem Bericht zusammen und schickt ihn an die Staatsanwaltschaft. Die zuständige Staatsanwältin oder der Staatsanwalt entscheidet dann, wie das Verfahren fortgesetzt wird. Das gesamte Strafverfahren kann sehr lange dauern. Bis zu seinem Abschluss können viele Monate oder mehr als ein Jahr vergehen.
Sobald die Polizei ihre Ermittlungen abgeschlossen hat, legt sie das von ihr gesammelte Material, das heißt die Vernehmungsprotokolle, Arztberichte, Beweisstücke (wie zum Beispiel Werkzeuge, die der Täter oder die Täterin benutzt hat, oder Kleidungsstücke) der Staatsanwaltschaft vor. Die Staatsanwaltschaft überprüft, ob die Polizei durch ihre Ermittlungen alle Umstände des Falles ausreichend erforscht hat oder ob sie noch weiteres Material sammeln muss. Die Staatsanwaltschaft kann die Polizei auffordern, weitere Ermittlungen durchzuführen.
Wenn die Staatsanwaltschaft die Beweismittel für ausreichend hält, erhebt sie Anklage. Das heißt, sie fertigt eine Anklageschrift an, in der sie die Tat schildert und darlegt. In der Anklageschrift muss stehen, gegen welche Paragraphen des Strafgesetzes der oder die Beschuldigte verstoßen hat und wie ihm oder ihr dies bewiesen werden kann.
Die Anklageschrift hat den Sinn, das im Ermittlungsverfahren gesammelte Material für das Gericht zusammenzufassen. Auch Beschuldigte erhalten ein Exemplar der Anklageschrift, damit sie sich damit auseinandersetzen können, was ihnen vorgeworfen wird. Die Anklageschrift schickt die Staatsanwältin oder der Staatsanwalt an das Gericht.
Mit Erhebung der Anklage befindet sich die Strafakte nun beim Gericht. Richterinnen und Richter arbeiten die Akte durch und entscheiden aufgrund der darin enthaltenen Informationen noch einmal wie die Staatsanwaltschaft, ob die Wahrscheinlichkeit besteht, dass es zu einer Verurteilung des oder der Beschuldigten kommt. Da die Staatsanwaltschaft diese Frage vorher schon gründlich geprüft und bejaht hat, kommt das Gericht in fast allen Fällen zu demselben Ergebnis. Durch einen Beschluss eröffnet das Gericht dann das Hauptverfahren und legt einen Termin für die mündliche Hauptverhandlung fest.
Aufgabe 7. Finden Sie im Text Äquivalente folgender Wörter und Wendungen:
- предъявление обвинения;
- основание для ареста;
- подать в полицию заявление о преступлении;
- снять отпечатки пальцев;
- исследовать все обстоятельства дела;
- открыть судебное производство по делу;
- произвести расследование;
- уличить;
- допрашивать свидетелей;
- подавать письменное заявление в полицию;
- инкриминировать кому-либо что-либо;
- требовать защитника/ адвоката.
Aufgabe 8. Übersetzen Sie folgende Wörter und Wendungen:
die Haft, verhaften, der Verhaftete, die Verhaftung, inhaftieren, die Inhaftierung, die Untersuchungshaft, der Haftbefehl, in Haft nehmen, aus der Haft entlassen, der Häftling.