Das Fehlen des Artikels

§ 72.Das Fehlen des Artikels kann durch den semantischen Inhalt sowie die syntaktische Funktion des betreffenden Substantivs bedingt sein. Dies ist der Fall:

1. bei Einzeldingen im Plural, wenn sie im Singular sinngemäß mit dem unbestimmten Artikel stehen. Die Artikellosigkelt im Plural weist in solchen Fällen darauf hin, daß nicht alle Einzeldinge derselben Gattung, sondern ein nicht näher bestimmter Teil erwähnt wird;

Auf der Landstraße fing es an, lebendig zu werden. Milchmädchen zogen vorüber; auch Eseltreiber mit ihren grauen Zöglingen. (H. Heine)

Als er weiter ins Innere der Stadt kam, vorbei an mächtigen Kirchen, deren Türme das Stadtbild bestimmten, stand er unversehens vor einem See — mitten in der Stadt. Rings um diesen See, der eingefaßt war von Alleen und Grünanlagen, standen Häuser, und auf dem Wasser fuhren kleine helle Dampfer, viele Segel- und Ruderboote. (W. Bredel)

2. wenn das prädikative Substantiv Beruf, Nationalität oder Parteizugehörigkeit und überhaupt die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft bezeichnet und von keinen näheren Bestimmungen begleitet ist (s. auch § 62);

„Was sagten Sie? Er ist Schriftsteller?“ (Th. Mann)

Klemm war damals Mitglied der Balkankommission. (A. Seghers)

„Ich bin ja jetzt Mutter. Bin Hausfrau. Im Krieg war ich Krankenschwester...“ (A. Seghers)

Ein und dasselbe prädikative Substantiv, das eine Berufsbezeichnung ist, kann zuweilen auch auf gewisse Eigenschaften oder Merkmale einer Person hinweisen. Im ersten Fall wird es artikellos gebraucht, im zweiten mit dem unbestimmten Artikel, vgl.;

Schäfer war er früher, heut' ist er Nachtwächter im Sägewerk drunten. (F. Erpenbeck)

„Am unglücklichsten aber ist doch Ludwig dran... Er ist nun auch schon zu alt und kann in seinem Beruf nicht mehr arbeiten. Sie müssen von einer kümmerlichen Rente leben. Nebenbei verdient er sich etwas dazu als Nachtwächter in einer Bank.“ — „Mutter, er ist zeitlebens ein Nachtwächter gewesen.“ (W. Bredel)

Im ersten Beispiel bezeichnet das Wort „Nachtwächter“ einen Beruf, im zweiten kennzeichnet es das Wesen eines Mannes als eines beschränkten Spießbürgers.

„Ihr Herr Vater ist also Kaufmann?“ fragte er ein wenig zögernd.

„Ja. Aber außerdem und eigentlich wohl in erster Linie ist er ein Künstler.“ (Th. Mann)

In diesem Beispiel bezeichnet das Wort „Kaufmann“ einen Beruf, das Wort „Künstler“ weist auf eine Eigenschaft des Kaufmanns hin, nämlich auf seine künstlerische Veranlagung.

3. wenn ein Stoffname oder ein Abstraktum ganz allgemein aufgefaßt wird, ohne daß der genannte Begriff in seinem Gesamtumfang gemeint ist (s. § 68);

4. bei Personennamen (s. § 69);

5. oft bei Substantiven, die Verwandtschaftsbezeichnungen sind und in ihrem Gebrauch den Personennamen nahe kommen (nämlich innerhalb einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft, meist der Familie);

Es wird dir recht sein, wenn ich dir die Sache abnehme und morgen vormittag selbst mit Mutter spreche? (Th. Mann)

Franz sagte heftig: „Da sieht man, was dir Vater für einen Unsinn erzählt hat.“ (A. Seghers)

6. bei geographischen Namen sächlichen Geschlechts, die Städte, Länder und Kontinente nennen, sowie bei den Namen größerer Inseln (s. § 70).

§ 73.In manchen Fällen ist der artikellose Gebrauch eines Substantivs unabhängig von dessen semantischem Inhalt. Entscheidend sind syntaktische Momente. Der Artikel fehlt:

1. wenn dem Substantiv ein attributives Pronomen oder ein Genitivattribut vorangeht;

Mit deinen schwarzbraunen Augen| Siehst du mich forschend an... (H. Heine)

Die Bauern machten ihren abendlichen Rundgang durch Ställe und Schuppen. (W. Bredel)

Es waren für sie drei schwere Tage, aber jeder Tag war ein Sieg. (W. Bredel)

Glaub mir und hör auf eines Mannes Wort,| der treu und redlich dir ergeben ist... (J. W. Goethe)

Bei Bertrams Eintritt hatten alle geschwiegen und ihn fragend angesehen. (B. Uhse)

2. wenn das attributive Adjektiv im Superlativ nicht in seiner eigentlichen, der relativen, sondern in der absoluten Bedeutung gebraucht wird, d. h. wenn es keinen Vergleich, sondern das Vorhandensein eines Merkmals in erhöhtem Maße ausdrückt (der Elativ, s. § 86);

Günstigste Bedingung für die Lohnarbeit ist möglichst rasches Wachstum des produktiven Kapitals... (K. Marx)

Gritli fügte sich darein; sie verbrachte den Rest des Winters in größter Stille... (G. Keller)

3. meist, wenn dem Substantiv eine Kardinalzahl vorangeht (s. auch § 65);

Drei Tage arbeitet Petra in der Maurerkolonne. (W. Bredel)

Herr Markus Wolfsohn hatte also acht Minuten von seiner Tischzeit eingebüßt, die um zwölf Uhr begann und um zwei Uhr endete. (L. Feuchtwanger)

4. wenn der Begriff als solcher bloß genannt wird;

„'Schönheit' ist Ihr drittes Wort, aber im Grunde ist es nichts als Bangebüchsigkeit und Duckmäuserei und Neid...“ (Th. Mann)

„Ja, was ist das, Genie?' sagte er nachdenklich. (Th. Mann)

5. wenn das Substantiv als Anrede oder als Ruf gebraucht wird;

Bester Freund, was ist das Herz des Menschen! (J. W. Goethe)

Ja, liebe Lotte, ich will alles besorgen und bestellen; geben Sie mir nur mehr Aufträge. (J. W. Goethe)

„Junger Taler! welche Schicksale erwarten dich!“ (H. Heine)

Wirklich leuchten in den dunklen Hausfronten da und dort Fenster auf, eine schwache, hohe Stimme schreit: „Ruhe!“ (H. Fallada)

„Komm, Kamerad, wollen mal versuchen aufzustehen. Hier liegenbleiben kannst du ja nicht.“ (F. Erpenbeck)

„Alter, hau' ab!“ rief jemand neben Hardekopf. (W. Bredel)

6. wenn ein Substantiv in einer präpositionalen Wendung (mit kongruierendem Attribut) auftritt, die im Satz meist Adverbialbestimmung oder prädikatives Attribut ist. In der Regel bezeichnet das Substantiv einen Körperteil, oder es ist ein Abstraktum.

Als er sie begriffen hatte, erhob er sich, er wies mit gelbem Finger auf sein gestärktes Vorhemd, die breite Trauerkrawatte. (H. Mann)

Franz setzte sich auf sein Rad und fuhr diesmal in entgegengesetzter Richtung auf dem Feldweg nach Breilsheim hinunter... (A. Seghers)

„Oh, oh“, warnte in sanftem Erschrecken ein dicker, gutgekleideter Mann mit schwammigem Gesicht, „damit darf man doch nicht rechnen.“ (F. Erpenbeck)

§ 74.Der Artikel kann auch aus stilistischen Gründen ausgelassen werden, namentlich dort, wo Kürze angestrebt wird, wie:

1. in Militärkommandos: Hände hoch! Gewehr über!;

Gneisenau... richtete sich im Sattel auf und befahl Galopp. (W. Bredel)

2. in Titeln sowie in Schlagzeilen der Zeitungen;

„Manifest der Kommunistischen Partei“ von K. Marx und F. Engels

„Abschied“ von J. R. Becher. „Totentanz“ von B. Kellermann

„Großer Sieg der westdeutschen Friedenskämpfer“ (Schlagzeile)

Anmerkung: Die Titel der wissenschaftlichen und literarischen Werke weisen jedoch häufig den Artikel auf, da der Titel den Inhalt des wissenschaftlichen bzw. des Kunstwerks gewissermaßen zusammenfaßt:

„Die Wahlverwandtschaften“ von J. W. Goethe. „Das Kapital“ von K. Marx. „Der deutsche Bauernkrieg“ von F. Engels. „Die Rettung“ von A. Seghers.

3. auf Aushängeschildern und in Bekanntmachungen: Post. Bäckerei. Ausverkauf. Bekanntmachung;

Sie geht zu einer Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift „Garderobe“ hängt. (E. M. Remarque)

4. bei der Aufzählung, häufig auch bei paarweise auftretenden Substantiven;

Fritz Hardekopf saß am Sonntagnachmittag in der guten Stube, Reißbrett, Lineal, Zirkel und Winkelmaß vor sich, und zeichnete den Grundriß eines Segelschiffs. (W. Bredel)

Bei Lebenden und Toten zeigt sich plötzlich in Antlitz, Haltung und Stimme der Gang der Geschichte... (St. Hermlin)

Und es war nichts als seine innere Schwäche und Verzweiflung, die vor Mutter und Schwester, während dieses Auftrittes hervorbrach. (Th. Mann)

Haupttür und Treppe lagen auf dieser Schmalseite, dem Gewächshaus gegenüber. (A. Seghers)

5. in vielen Sprichwörtern und formelhaften Wendungen (namentlich wenn es präpositionale Wendungen sind), teils um der Kürze willen, teils weil ihre Entstehung in die Entwicklungsperiode der Sprache fällt, wo es noch keine feststehenden Regeln für den Gebrauch des Artikels gab: Notbricht Eisen. Blinder Eiferschadet nur. Gelegenheitmacht Diebe. Endegut — alles gut. Steter Tropfenhöhlt den Stein. Nach getaner Arbeitist gut ruhen; zu Fußgehen; zu Mittagessen, zu Gast, zu Hause, nach Hause, zuBett gehen; nach Tische, an Ort und Stelle, an Stelle, mit Rat und Tat beistehen, mit Weib und Kind, mit Stumpf und Stiel, in Betracht ziehen, Hand in Hand, in Brand stekken, in Frage kommen, auf Schritt und Tritt, auf Erden, über Nacht, Hals über Kopf, vor Gericht, seit Jahr und Tag, von Zeit zu Zeit, von Kind auf, bei Nacht und Nebel, Schritt für Schritt, Haus und Hof, Hab und Gut, Tag und Nacht; Platz nehmen, Klavier spielen (auch Schach, Geige usw.), Zeit (Lust, Gelegenheit) haben, Gebrauch machen, Aufsehen erregen, Beifall klatschen, Licht machen, Wind bekommen usw.

Heinrich war vom Sanatorium nach Hause gekommen. (W. Joho)

Da er zu Fuß kam, wurde er ohne viel Feierlichkeit empfangen. (Th. Mann)

Aber dann war das Gedicht zu Ende. (Th. Mann)

Die Leute gingen von Fenster zu Fenster... (Th. Mann)

Es galt also Abschied zu nehmen von allem, mit dem ich bis dahin verwachsen war. (A. Scharrer)

Peter Röhl lacht ein leises, warmes Lachen und schlendert weiter, langsam, Schritt für Schritt... (F. Erpenbeck)

Die Verschmelzung von Präposition und Artikel

§ 75.Drei Singularformen des bestimmten Artikels (Dat. mask. und neutr. dem, Akk. neutr. das, Dat. femin. der) können zuweilen, bei einem Substantiv mit Präposition gebraucht, mit manchen Präpositionen zu einem Wort verschmelzen: an, bei, in, von, zu + dem = am, beim, im, vom, zum; an, auf, für, hinter, über, um + das = ans, aufs, fürs, hinters, übers, ums; zu + der = zur.

Die Verschmelzung findet jedoch nur statt, wenn der Artikel völlig unbetont ist. Dies ist der Fall:

1. in den meisten präpositionalen Wendungen;

Im Halbschlaf versuchte er unter dem alten gewohnten Zwang sich alle Geräusche im Haus zu erklären... (A. Seghers)

Aldingers Frau hatte ihren Kindern das Essen aufs Feld gebracht. (A. Seghers)

Anmerkung. Sobald aber der Artikel auf ein nachfolgendes Attribut oder einen Nebensatz hinweist, geschieht die Verschmelzung in der Regel nicht.

Kreß stand noch auf demselben Fleck in dem dunklen Teil des Zimmers. (A. Seghers)

Er erinnerte sich des Fliegers, den er beherbergt hatte, und fühlte sich mitschuldig an dem Unglück, das über sie gekommen war. (B. Uhse)

Er hob die Ellbogen vom Tisch auf und rückte näher an Christensen heran, der von dem Brief berichtete, den sie bekommen... (B. Uhse)

2. in vielen formelhaften Wendungen: übers Ohr hauen, hinters Licht führen, im Bilde sein, aufs Haupt schlagen, zum Narren halten, ums Leben kommen, aufs Geratewohl, beim Wort nehmen und vielen anderen.

... Der Reinhold ist nun auch fort — er war ein vornehmer Maler und hat mich zum Narren gehalten mit seiner Küperei. — (E. T. A. Hoffmann)

Vor nunmehr drei Stunden hat ihn Fiedler beim Wort genommen. (A. Seghers)

Rat und Aufklärung suchend, stellte Eduard bei Gelegenheit seine Schwester zur Rede. (Th. Mann)

Kapitel IV

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