Mehrdeutigkeit der grammatischen Formen

1. In der Regel besitzt jede grammatische Form mehrere Bedeutungen, wobei eine von ihnen als Hauptbedeutung (oder paradigmatische Bedeutung), die anderen als Nebenbedeutungen (oder syntagmatische Bedeutungen) aufzufassen sind.

Die Hauptbedeutung erschließt man aus einem minimalen, neutralen Kontext: Der Platz ist besetzt. – Der Platz war besetzt. Ohne Kontext verstehen wir, dass es sich im ersten Fall um die Gegenwart, im zweiten um die Vergangenheit handelt. Aus der syntagmatischen Sicht aber ergibt sich der grammatische Sinn derselben Zeitformen nicht so einfach.

Das Präsens kann in einer Erzählung über vergangene Erreignisse die Bedeutung des Präteritums annehmen (präsens historicum). Das historische Präsens dringt in den Bereich der Vergangenheit ein, wo es das Präteritum ersetzt und dessen Synonym wird. Dies kommt in einer Erzählung vor an den Stellen, die von besonderer Bedeutung und Spannung für den Erzähler sind: Ich nahm meine Handtasche aus dem Netz, um etwas Toilette zu machen. Mit ausgestreckten Armen hielt ich sie über meinem Kopf. In diesem Augenblick geschieht das Eisenbahnunglück. Ich weiß es wie heute. Es gab einen Stoß … [Schendels: 49]

In der erlebten Rede kann das Präteritum (das präsentische Präteritum) das Präsens verdrängen. In der erlebten Rede greifen die Autorensprache und die Figurensprache ineinander, so dass keine scharfen Grenzen dazwischen zu ziehen sind. Ohne einleitende Worte gibt der Autor die Gedanken und Gefühle seiner Helden in der ihnen eigenen sprachlichen Form wieder: Wo war Doktor Grabow? Die Konsulin erhob sich unauffällig und ging. Der erste Fragesatz enthält erlebte Rede – den Gedanken der Konsulin. Der zweite Satz enthält reine Autorensprache. In beiden Sätzen steht das Präteritum; im ersten Satz bezeichnet es die Gegenwart vom Standpunkt der handelnden Person aus, das kann man durch seine Austauschbarkeit mit dem Präsens beweisen: Wo ist Doktor Grabow? [Schendels: 50] Auf diese Weise können sich beliebige Oppositionsglieder bei der Neutralisierung ihrer semantischen Unterscheidungsmerkmale in Synonyme verwandeln.

2. Eine grammatische Form kann verschiedene Stilwerte haben. So hat das Präsens in einer von seinen zahlreichen Nebenbedeutungen (als präsens historicum) mehrere Stilwerte:

a) das sachliche, dokumentarische präsens historicum in einem Lehrbuch für Geschichte oder in einer Geschichtstabelle: Mit Umsicht führt Barbarossa den erneuten Zusammenschluss mit der Reichskirche herbei. Er benützt jedes Recht, das ihm nach dem Wormser Konkordat zusteht, um die deutschen Kurfürsten wieder fest in die Hand zu bekommen. In derselben Art verfasst man oft Biographien: 1824. Heine schafft sein berühmtes Werk “Die Harzreise”. 1826. Heine schreibt ein weiteres Reisebild “Ideen. Das Buch Le Grand”.

b) das dynamische, lebhaft vergegenwärtigende präsens historicum in einer Erzählung: Der Soldat aber muss Geduld haben und Gehorsam üben, rief er sich zu. Heute sah er ein, dass er unrecht gehabt hatte; noch wenige Monate und der Krieg war zu Ende. [Kellermann]

c) das ruhig erklärende, kommentierende dramatische Präsens in den Bühnenamweisungen (in einem Film oder Theaterstück): Er steht am Fenster und blickt hinunter. Dann setzt er sich an seinen Schreibtisch und ordnet die Papiere. Das Telephon läutet. Er nimmt den Hörer ab und sagt…

3. Mehrere grammatische Formen können denselben Stilwert haben. Derselbe Tatbestand kann sprachlich verschieden gestaltet werden.: Steigen Sie ein! Einsteigen! Dass Sie mir sofort einsteigen! Jetzt wird eingestiegen! Sie sollen (müssen) eisteigen! Sie steigen jetzt ein! Der denotative Inhalt bleibt derselbe, doch wird der Schaffner seine Fahrgäste anders anreden als die Mutter ihre Kinder oder ein Kavalier seine Dame. Trotz grundsätzlicher Funktionsgemeinschaft bestehen feine Bedeutungs- und Stilunterschiede zwischen den einzelnen Ausdrucksweisen.

Ein anschauliches Beispiel liefern die kontextualen Synonyme du, Sie – wir in einer spezifischen Sprechsituation, wenn ein Arzt einen Kranken (gewöhnlich ein Kind) anredet: Wie fühlen wir uns? Wie fühlst du dich? Die zweite Anrede im Gegensatz zu der ersten ist stilistisch nicht koloriert.

Als Zusammenfassung ist folgendes zu sagen:

1. Eine grammatische Form kann mehrere Bedeutungen und meherere Stilwerte haben;

2. Mehrere Formen können dieselbe Bedeutung haben;

3. Mehrere Formen können denselben Stilwert haben, d.h. unterschiedliche Formen tragen dazu bei, einen einheitlichen Stilwert und eine einheitliche Konnotation hervorzurufen.

Grammatische Seme

Die Semeanalyse (die semantische Komponentenanalyse) benutzt man, um den Bedeutungsgehalt tiefer und genauer zu ergründen. Das Sem ist das kleinste semantische Merklmal einer sprachlichen Einheit, das auf einer bestimmten Styfe der Analyse unzerlegbar ist. Unter einer sprachlichen Einheit versteht man alle sinntragenden Einheiten, d.h. ein Wort, als Bestandteil des Wortschatzes, eine Wortform als eine morphologische Größe, eine Wortgruppe und ein Satzmodell als syntaktische Größen.

Wenn man den Wortschatz in Wortarten einordnet, so genügen folgende Seme:

“Gegenständlichkeit” für die Wortart Substantiv;

“Vorgang” für das Verb;

“Merkmal” für das Adjektiv.

Innerhalb jeder Wortart entsteht weitere Gliederung.

Die Wortklasse Substantiv zerfällt in zwei große Unterklassen: Lebewesen und Nichtlebewesen. Die Substantive mit dem Sem “Lebewesen” schließen Bezeichnungen für Tiere und Menschen ein. Das Sem “Mensch” hilft, Bezeichnungen für Menschen von Tiernamen abzusondern. Eine weitere Gliedering ergibt neue engere Subklassen wie etwa: Beruf, nationale Zugehörigkeit, Verwandschaftzbezeichnung, Charakterzug u.ä.

Ein einzelnes Wort besitzt die größte Semenzahl, weil es die Seme der übergeordneten Wortklassen und noch seine individuellen Seme vereinigt. Auf diese Weise entsteht eine Hierarchie von Semen, die folgende Tabelle veranschaulicht:

Wortklassen Seme
alle Substantive Gegenständlichkeit
alle Bezeichnungen für Lebewesen Gegenständlichkeit, Lebewesen
alle Personenbezeichnungen Gegenständlichkeit, Lebewesen, Person
alle Berufsbezeichnungen Gegenständlichkeit, Lebewesen, Person, Beruf
Einzelwort, z.B. Dichter Gegenständlichkeit, Lebewesen, Person, Beruf, Dichten als Beruf

Die aufgezählten Seme stellen den objektiven, gegenständlich-logischen (denotativen) Sachverhalt der Substantive dar. Setzen wir nun in die Tabelle noch das Wort Dichterling ein; es enthält außer allen anderen Semen zusätzlich noch ein negatives Bewertungssem, das einer expressiv-stilistischer Einschätzung, die Sehweise des Sprechers wiedergibt. Das Bewertungssem kann auch positives Verhalten zum Ausdruck bringen (das Kindchen). Die Bewertungsseme bestimmen vorrangig die absolute Stilfärbung des Wortes, die die stilistische Einteilung des Wortschatzes ermöglicht und die Stilwirkung bedingt. Aufgrund des negativen Bewertungssems entstehen mannigfache Nuancen der stilistischen Expressivität wie Ironie, Spott, Verachtung, Geringschätzung, Herablassung, Grobheit; das positive Bewertugnssem ruft solche gefühlsmäßigen Abschattungen wie Zärtlichkeit, Vertraulichkeit, Teilnahme, Feierlichkeit wach.

Die stilistische Komponente eines Lexems kann nicht nur im Suffix enthalten sein, sondern auch in Wurzelwörtern: Fratze, Lenz.

Die obigen Beispiele veranschaulichen die Semenanalyse der lexischen, teilweise auch der stilistischen Information. Zwar kreuzen sich auch hier Lexik und Grammatik, vor allem bei der Einteilung des Wortschatzes in Wortarten. Die lexikalisch-grammatischen Seme dienen als feines Stilmittel bei der Konversion (Substantivierung, Adjektivierung, Verbalisierung), wobei derselbe Sachgehalt aus veränderter Sicht dargestellt wird: spielen – das Spielen, das Spiel; kantig – das Kantige; nie da gewesen – das Niedagewesene.

In der Morphologie spielt die Wortform eine Rolle, da jedes Wort unbedingt in irgendeiner grammatischen Form auftritt.

Seme Wortformen
Gegenwart, Dauer in der Handlung Präsens: Sie essen zu Mittag.
Vergangenheit, Vollendung der Handlung, Einbeziehung der Gegenwart Perfekt: Sie haben zu Mittag gegessen.
Zukunft Futur: Sie werden zu Mittag essen.

Eine stilistische Komponente finden wir in diesen Wortformen nicht. Aber unter dem Einfluss des Kontextes oder der Situation entsteht ein neues Sem: Wenn wir werden in Himmel kommen, hat die Plag ein End’ genommen. (das Perfekt dient zum Ausdruck einer bevorstehenden Handlung). Als Umschalter des Perfekts aus der Vergangengheit in die Zukunftssphäre dient hier das Futur im Nebensatz. Das Perfekt verliert sein Sem “Vergangenheit”, erlangt ein neues Sem “Zukunft” und bekommt die Seme der Hauptbedeutung “Vollendung der Handlung und Einbeziehung der Gegenwart”.

Die grammatischen und lexikalischen Seme stehen in einem bestimmten Wechselverhältnis zueinander.

a) Die Verben, die eine menschliche Tätigkeit bezeichnen, können alle Personalformen bilden: ich lese, du liest, er liest etc.

b) Ein lückenhaftes Paradigma kennzeichnet

- die Verben der Naturerscheinungen: regnen, hageln, sich bewölken;

- die “Ereignisverben”: geschehen, passieren, erfolgen, sich ereignen;

- die Verben mit dem Sem “Mehrzahl”: sich versammeln, umzingeln, sich anhäufen. Die lexikalischen Seme dieser Verben widersetzen sich den grammatischen Semen der 1. und 2. Person Sg. und lassen kene Bildung der entsprechenden Verbalformen zu. Doch nützt diesen Widerspruch die Stilistik aus, indem sie bei der Personifizierung die Unvereinbarkeit überwindet, sie umwertet: “Ich fließe Tag und Nacht”, sagte der Milchfluss. Oder sie metaphorisch verwendet: Der Apfelbaum schneit Blüten.

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