Aufgabe 1. Lesen Sie den Dialog D 6-2
Sich Herausforderungen stellen …
Klaus: Boris, Michael und ich kannten uns schon vor der Wiedervereinigung. Michael wird dir viel zu deinem Thema sagen können. Wie wär‘s: Du interviewst ihn. So etwas solltest du auch einmal gemacht haben.
Boris: Na, das wär dann mein erstes Interview, das ich abhielte.
Klaus: Es wird nicht dein erstes bleiben. Und Michael als Journalist wird dir entgegenkommen.
Boris: Ich gehe auf deinen Vorschlag ein. Aber vielleicht gebt ihr mir einige Minuten Bedenkzeit und ein Stück Papier.(Boris zieht sich zurück)
Boris: Herr Schneider, dürfte ich Ihnen einige Fragen zu Ihrem Berufsweg, zur Wiedervereinigung, die Sie miterlebt haben, und vielleicht auch einige persönlichere Fragen zum familiären Leben hier in Berlin stellen?
Michael: Sehr gern.
Boris: Sind Sie hier in Berlin aufgewachsen?
Michael: Keineswegs. Ich komme aus Sachsen-Anhalt. Ein sehr schönes Bundesland, mit Harz, Elbe und den Landschaftsschutzgebieten. Die Harz-Städte Halberstadt, Wernigerode und Quedlinburg zählen für mich zu den schönsten Städten Deutschlands.
Boris: Wie kamen Sie dann hier nach Berlin?
Michael: Berufsbedingt. Das heutige Bundesland Sachsen-Anhalt war zur DDR-Zeit mit Halle und Bitterfeld ein herausragendes Industriegebiet. Nach der Wiedervereinigung brach es weitgehend zusammen. Nun gut: heute sitzt Bayer in Bitterfeld. Die Region Halle-Leipzig wird zu einem Zentrum der Bio- und Gen-Technologie entwickelt. Aber die Arbeitslosigkeit liegt bei 20 %; das ist gut doppelt so hoch wie im Westen, und da muss man für jeden Arbeitsplatz dankbar sein. Sachsen-Anhalt ist ja eines der kleinsten Bundesländer, mit gerade etwas über 2.5 Mio. Einwohnern. Die Zahl der Erwerbstätigen sank kontinuierlich. Wenn nicht der Tourismus wäre.
Nun zu mir: Ich habe Wirtschaft studiert, an der nicht unberühmten Universität Leipzig. 1988 machte ich mein Diplom, übrigens mit Sehr gut. Daraufhin heirateten Natascha und ich. Aber ein Jahr später, nach der Wiedervereinigung, war mein Examen nichts mehr wert. Ich versuchte, in der Wirtschaft unterzukommen. Aber die Firmen wollten angesichts der unsicheren Lage niemanden längerfristig einstellen. Eine, bei der ich unterkam, ging nach drei Viertel Jahr in den Konkurs. Ich stand wieder auf der Straße. Alles Suchen – weit über hundert Bewerbungsschreiben – war vergeblich. So war ich zwei Jahre lang arbeitslos. Wir beschlossen, nach Ost-Berlin überzusiedeln, weil ich mir im Zuge des Aufbaus der Stadt mehr Chancen versprach.. So landete ich hier. Ich habe dann in drei Firmen gearbeitet. Aber wie es heute meistens so geht: nach der Probezeit erfolgte jeweils keine Übernahme. Das darf man nicht persönlich nehmen; es ist schon Usus, auf diese Weise Festeinstellungen zu umgehen. Schließlich landete ich in der Redaktion eines Wirtschaftsverlags, mit ein bisschen Vitamin B. Waren ja viele in der gleichen Situation. Berlin ist ja auch ein innovativer Medienstandort. Mit zehn Tages- und vier Sonntagszeitungen haben wir hier vielleicht die größte Pressevielfalt in Europa, mit den Buchverlagen die zweitgrößte Verlagsstadt Deutschlands. Wichtig ist für einen Wirtschaftsjournalisten auch der Kontakt zu den Parteien und Verbänden, auch zu Berlin als Messe- und Kongressstadt.
Boris: Und wie beurteilen Sie dann unter dem Wirtschaftsaspekt die Wiedervereinigung?
Michael: Es ist viel darüber geschrieben worden. Man hatte im Westen Erfahrungen mit der Privatisierung einzelner Unternehmen, aber nicht mit der Umstrukturierung einer ganzen Volkswirtschaft von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft. Erstens war da die schlagartige Privatisierung mit der Suche nach Investoren. Das brachte zweitens nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage die Senkung des Werts eines jeden Unternehmens mit sich. Es musste drittens eine Rationalisierung durch Entlassungen vorgenommen werden. Und damit kam viertens die Arbeitslosigkeit. Die neuen in- und ausländischen Investoren machten zwar ihre Zusagen: 200, 800, 1 500, 2 500 Arbeitsplätze! Aber wenn sie dann ihre Zusagen nicht einhielten: wer konnte sie dann zur Rechenschaft ziehen? Eine ganze Volkswirtschaft nicht von Innen, sondern von Außen, dominant durch Investoren umzustrukturieren: wo gab es das je? Man hatte zu wenig Erfahrung, war geradezu naiv optimistisch. Angesichts der Wirtschaftsflaute im Westen versprach man sich durch die Expansion im Osten auch einen allgemeinen Konjunkturschub. In einzelnen Branchen, so in der Bauwirtschaft und Verkerswesen, kam es auch zu einer kurzfristigen Expansion, die dann nach einigen Jahren zu Konkursen führte. Auf der Basis der heutigen Erfahrung hätte man wohl vieles anders gemacht. Aber wo gestehen Politiker und Parteien ihre Fehler ein? Und letztlich: unsere Politiker haben in den seltensten Fällen, wie du und Klaus, Wirtschaft oder Volkswirtschaft studiert.
Boris: Das ist die wirtschaftspolitische Seite. Und die persönliche für die Menschen? Ich hörte von dem Vorwurf: die Ostdeutschen seien undankbar.
Michael: Aus meiner eigenen Perspektive habe ich dazu ja schon einiges gesagt. Hört man die Betroffenen selbst, so jammern fast alle. Aber keiner will zurück in das „sozialistische Paradies“. Die westlichen Versprechungen – in fünf Jahren „blühende Landschaften“ – waren einfach zu hoch und naiv; um nicht zu sagen: unverantwortlich. Ja, der 9. November ’89: Friede, Freude, Eierkuchen, Feuerwerk, Freudetränen. Ein Jahr später nach dem 3. Oktober schon Katzenjammer. Um Ernst zu bleiben: für die Westler hat sich ja nicht viel geändert, außer dass sie den Solidaritätszuschlag zahlen müssen. Wer hätte das gedacht, dass das sich über so viele Jahre hinzieht.
Zu DDR-Zeit verließ man sich im Großen und Ganzen ja auf den „Vater Staat“, der einem eine gewisse soziale Sicherheit bot. Das war nicht gerade ein Aufruf zur Eigeninitiative und zur Eigenverantwortung. So leben jetzt hier viele Menschen unter der Armutsgrenze; d.h. sie verfügen über weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens. Jugendliche sind am stärksten von dem Problem der Perspektivlosigkeit betroffen. Da setzen die einen auf Gewaltparolen; die anderen landen in der Resignation und im schlimmsten Fall in der Obdachlosigkeit, wie du hier in Berlin siehst.
Boris: Ist diese Obdachlosigkeit auch ein Resultat der Wiedervereinigung?
Michael: Die vielen jugendlichen Bettler und Obdachlose haben meist einen anderen Hintergrund: fehlender Schulabschluss, Ausbruch aus der Familie, Übergang zu Alkohol und anderen Drogen, Beschaffungskriminalität; und damit bieten sie auch kaum noch die Möglichkeit zur Resozialisierung.
Boris: Darf ich nun einmal fragen, mit welchen wirtschaftlichen und sozialen Problemen das private Leben hier belastet ist?
Michael: Das ist eigentlich das, mit dem man am unmittelbarsten konfrontiert ist: die Mietkosten und überhaupt eine den finanziellen Möglichkeiten angemessene Wohnung zu finden; dazu die Energiekosten. Unter Umständen braucht man beruflich auch einen Wagen. Doch wenn man mit Umsicht einkauft, findet man hinsichtlich Lebensmittel und Kleidung bei Discountern billige Möglichkeiten, bei ALDI an erster Stelle. Natascha arbeitet und verdient ihr Geld als Kassiererin in einem Supermarkt, bei ihrem Philologiestudium in Englisch und Französisch weit unter ihrem Level. Aber beim Ausbau der Filialketten wurde ihr hier relativ schnell eine sichere Stellen angeboten. Doch fast jede Arbeitsstelle ist heute unsicher. Und dann: Es geht eine unsichtbare Grenze durch diese Gesellschaft: auf der einen Seite die Gutverdienenden, die sich fast alles leisten können: vom Essen in einer teuren Gaststätte bis hin zu den teuersten Labels, und auf der anderen Seite die überwiegende Zahl derjenigen, die sich immer mehr einschränken müssen. Wo ein Kind ist, verschärfen sich die Probleme, und krank darf man auch nicht werden. Was die Zukunft bringt, weiß keiner.
Boris: Sehen Sie denn auch positive Perspektiven?
Michael: Durchaus. Nur muss ich dann vom Privaten und vom Heute absehen. Positive Perspektiven kann sich vor allem die Wirtschaft aufgrund der EU-Erweiterung ausrechnen: neue Absatzgebiete, neue Kooperationen, Senkung der Produktionskosten durch Betriebsverlagerung. Gewinner sind außer den Unternehmern natürlich auch die Menschen in den Beitrittsländern. Als positiv sehe ich auch die endlich angegangenen Sozialreformen an. Das ganze Bismarcksche System war längst veraltet. Man hat diese Reform ohnehin zu lange verschleppt, und jetzt ist zu befürchten, dass sie zur Halbheit degeneriert.
Boris: Herr Schneider, ich danke Ihnen für die sehr ausführlichen Auskünfte.
Michael: Perfekt, Boris. War das wirklich das erste Interview, das Sie hielten?
- Wie teilst du dein Gehalt ein?
- Etwa 30% für Miete, 30% für Kleidung, 40% für Essen
und 10% für Vergnügungen.
- Aber das sind ja 110%
- Ja, leider, leider!
Texterläuterungen
Bayer AG- Hauptwerk in Leverkusen bei Köln; nach der BASF der zweitgrößte deutsche Chemiekonzern; gegründet 1863, heute vor allem Hersteller von Pharma- und Agroprodukten (u.a. Aspirin)
Vitamin B - ugs.: das lebensfördernde „Vitamin“ der persönlichen, hilfreichen „Beziehungen“; „B“ als Abk.dafür
Solidaritätszuschlag- Lohnabschlag als Beitrag zu den Kosten der Wiedervereinigung (Solidarität als Zusammengehörigkeit, Verbundensein)
Discounter- Discountladen, einfach eingerichteter Laden mit Selbstbedienung, in dem sie Waren aufgrund geringerer Investition zu niedrigeren Preisen verkauft werden können (von engl. discount - Rabatt, Preisnachlass)
ALDI - Firmenname für Albrecht-Discount; als kleines Familienunternehmen 1913 in Essen gegründet; später von den Söhnen Karl und Theo Paul unter Einführung der Discount-Idee in Deutschland als Lebensmittelkette ausgebaut; mittlerweile weltweit vertreten
Beitrittsländer- die Länder, die nach der Gründung der EU (Europäischen Union) 1993 derselben beigetreten sind, vor allem die osteuropäischen Staaten, die am 01. 05. 2004 beitraten, womit sich die Zahl der Mitgliedsländer von 15 auf 25 erhöhte
Label – [leibl] (engl.) Etikett, Klebezettel
Wörter und Wendungen