Boris: Alles hier her
Kellnerin:(irritiert, stellt alles in die Mitte)Dann bedient euch eben selbst!
Klaus: Schade, dass Gisela nicht mitkommen konnte. Aber die wird zu Hause bestimmt wieder ihre Archivmaterialien ordnen. Ist bei ihr immer so ein Problem. Und bis morgen soll sie die doch sortiert haben.
Natascha: Und wie schön der Mond hier herein scheint.
Boris: Der Mond von Frolowo.
Natascha: Mond von Soho, meinst du wohl, aus der „Dreigroschenoper“.
(zur Tür herein kommt Gisela; alle sprachlos).
Gisela: Ja, da staunt ihr wohl! Wollt’ euch doch überrascht haben. Leider hat sich die Deutsche Bahn mal wieder verspätet. Kennt ihr ja. Seid ihr schon lange hier?
Klaus: Wir sind auch erst gerade gekommen.
Gisela: Dann hab ich ja wohl nicht viel verpasst. Musste doch unbedingt noch mal meinen lieben Boris vor seiner Abfahrt gesehen haben!
Boris: Ah, doch. Liebt sie mich – liebt sie mich nicht – ja, sie liebt mich! Bald hab ich mein Diplom, und dann heiraten wir, und dann fünf kleine Borisse!
Klaus: Jetzt fehlt nur noch Nina:
Nina: (mit zerzaustem Haar)Wieso? Hier bin ich doch schon. Euch hört man ja bis nach Wolgograd!
Klaus und Gisela: Und wo kommst du denn jetzt her?
Nina: Mein Geheimnis. Muss wohl auf Tempelhof gelandet sein.
Natascha: Da landet doch heute gar keine Maschine von Moskau mehr.
Nina: Privatflugkonstruktion. Und im Mondschein sehe ich gut, aber niemand sieht mich.
Gisela: Nun sag nur noch, du wärst eine Hexe!
Nina: Vielleicht!
Michael: (zu Natascha) Sag mal, ist das nicht eine sehr mysteriöse Gesellschaft?
Natascha: Mysteriös und mystisch zugleich. Wohl typisch russische Mentalität. Da sollen doch einige russische Dichter so eigenartige Szenen geschrieben haben. Vielleicht bei Gogol?
Gisela: (ziemlich laut)Ach, was ist das Leben schön! Und wo bleibt da noch das Boxen und Büffeln?
(steigt auf den Tisch)
Alle: Ja, das ist es: table dance! Gisi, rock mal los, und du, Klaus, willst du nicht auch?(Gisela macht langsame Tanzbewegungen auf dem Tisch.)
Klaus: (summt)„Freude, schöner Götterfunken …“
Boris: Aber ich soll doch Konjunktivkonstruktionen üben: „Wir beträten feuertrunken …“ ; hätten, beträten – nein, da stimmt was nicht.(Eine Musik aus der Jukebox löst Beethoven ab.)
Boris: Alla Pugatschowa? Okudschawa? Wysotzki? Alles durcheinander? Schauerlich, ohne Disziplin. Wie kann ich da noch arbeiten, an meinem Diplom? Olle Kamellen, aus der Zeit, als man mich noch auf den Topf setzte.(Horcht)Ach nein, Rock‘n Role. Sind das die Rolling Stones? Udo Lindenberg? Die Leningrad Cowboys?(Ein Windzug geht durch den Raum.)
Gisela: Ach meine Zettel, meine Archivmaterialien. Jetzt kommt schon wieder alles durcheinander.
Boris: Und meine Realien! Jetzt verzögert sich mein Diplom. O Gott!
Natascha: Ist ja ganz schön, mal auszuflippen. Aber irgendwie muss wohl ein Stein aus eurer Sozialisation weggebrochen sein. Wo bleibt die Rücksichtnahme und Disziplin?
Boris: Freundschaft und Hilfbereitschaft ist jetzt wichtiger.
Nina: Blödes Gerede über Emanzipation. Man muss sie leben. Es lebe …, es lebe …, es lebe …
Natascha: Na, wat denn?
Gisela: Hauptsache: W i r leben! Wir! Wir! Wir!
Michael: Auch eine Art von Volkssouveränität!
Natascha: Nein, diese Gesellschaft! Was denkt die Bedienung von uns? Ist gar nicht mehr aufgetaucht, hat sich vor dem „Club der Verrückten“ zurückgezogen.
(Ein Geräusch wie von einer leichten Maschine, das sich langsam verstärkt, wird hörbar:)
Tak, tak, tak, tak,(dann ein Surren.)
Boris: Was wird mir so heiß auf einmal?
Klaus: Ja, Boris, immer noch müde vom gestrigen Pflastertreten? Du schläfst ja wie ein russischer Bär! Aber der Wecker! Wir müssen … . Der Lauf der Zeit ist erbarmungslos.
Boris: Klaus, bin ich Russe oder Deutscher?
Klaus: Vielleicht beides, wie ich als Deutscher auch meine russische Seele entdeckt habe. „Zwei Seelen in einer Brust“. Verspürte schon Goethe.
Michael: (kam soeben hinzu)Unser „Zwei-Seelen-Club“. Ich ebenso mit meiner West- und Ostseele.
Boris: Wo ist Gisi abgeblieben? Meine Gisi. Ach, wir sind ja noch bei Michael und Natascha. Verzeihung! Guten Morgen!
Klaus: Werd erst mal richtig wach!
Boris: Heute brauch ich unbedingt zwei Tassen starken Kaffee. Tee tut‘s nicht.
Im Internat
-Die da machen so viel Lärm mit ihrem Rekorder.
- Ich habe eine idee. In zwei Minuten bin ich zurück.
- Könnten Sie mir bitte nicht Ihren Rekorder bis zum
Morgen leihen?
-Jetzt um Mitternacht? Wollen Sie wohl noch tanzen?
-Nein, wir möchten gern schlafen.
Texterläuterungen
„Die Gedanken sind frei“ - „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten …“ , Anfang eines
Liedes, das um 1800 in Süddeutschland auf mehreren Flugblättern erschien; im
frühen 19. Jh. ein beliebtes freiheitliches Studentenlied als Trutzlied gegen die
obrigkeitliche Zensur. Die Formulierung „Gedanken sind frei“ begegnet seit dem
13. Jh. immer wieder in Liedern und Sprichwörtern
Bier mit Cola – gemischt, in Köln als „Drecksack“ bezeichnet
der Mond über Soho -vorkommend in dem „Anstatt-dass-Song“ von Bertolt Brechts
bekanntestem Werk, seiner „Dreigroschenoper“ (1929), dort I, 1.Soho, im Zentrum
Londons gelegen, ist heute vor allem ein Geschäfts- und Gaststättenviertel. Bei
Brecht steht der Name für ein Milieu zweifelhafter Vergnügen und der Unterwelt
„Freude, schöner Gütterfunken“ - erste Zeile von Schillers Hymne „An die Freude“; mit über
hundert Vertonungen wurde sie gewissermaßen zu einem Volkslied, wiewohl sich
Schiller fünfzehn Jahre später sehr kritisch („schlecht“, „fehlerhaft“) von dieser
schwärmerischen Feier der kosmischen Gewalt himmlischer Güte in seiner
Jugendpoesie distanzierte. Die Vertonung von Ludwig van Beethoven, als Finale in
seine 9. Symphonie integriert, wurde als Hymne der Europäischen Union gewählt
Tempelhof -innerstädtischer Flughafen Berlins im gleichnamigen Verwaltungsbezirk Berlins. Die 1935 im avantgardischen Stil errichtete Anlage, deren Schließung immer wieder erwogen wird, wird heute jedoch nur noch für Inland- und nähere Auslandflüge genutzt. 1908 startete von diesem Feld die Brüdern Wright das erste Motorflugzeug der Welt
Privatkonstruktion - Anspielung darauf, dass Hexen nach dem Volksglauben auf einem Besen durch die Luft reiten
table dance - erotischer Tanz auf dem Tisch, meist in einem Club oder einer Nachtbar