Bedeutung und Gebrauch des Konjunktivs

§ 156.Die Zeitformen des Konjunktivs werden ihrer Bildung nach in zwei Gruppen eingeteilt: den präsentischen Konjunktiv und den präteritalen Konjunktiv. Zum präsentischen Konjunktiv gehören: das Präsens, Perfekt und Futur, zum präteritalen: das Präteritum, das Plusquamperfekt und der Konditionalis. Diese Einteilung hilft auch die Besonderheiten in Bedeutung und Gebrauch der Zeitformen zu unterscheiden. Die Zeitformen des Konjunktivs unterscheiden sich ihrer zeitlichen Bedeutung nach von den entsprechenden Zeitformen des Indikativs. So dient das Präteritum Konjunktiv stets zur Bezeichnung eines gegenwärtigen bzw. zukünftigen Vorgangs; ein vergangenes Geschehen wird durch das Perfekt und das Plusquamperfekt Konjunktiv bezeichnet. Seiner zeitlichen Bedeutung nach entspricht der Konditionalis I dem Präteritum Konjunktiv und der Konditionalis II dem Plusquamperfekt Konjunktiv.

Der Konjunktiv kann absolut und relativ gebraucht werden. Im selbständigen Satz sowie im Hauptsatz wird er nur absolut gebraucht, im Nebensatz absolut und relativ.

Seiner modalen Bedeutung nach unterscheidet sich der präsentische Konjunktiv recht wesentlich von dem präteritalen.

§ 157.Die präsentischen Zeitformen. Von den Zeitformen des präsentischen Konjunktivs wird nur das Präsens im selbständigen Satz gebraucht. Das Perfekt und das Futur Konjunktiv kommen nur im Nebensatz vor. Das Präsens Konjunktiv bezeichnet einen erfüllbaren Wunsch, einen Befehl, eine Anweisung, eine Einräumung (der optative, imperativische oder heischende Konjunktiv). Es wird gebraucht:

1. zum Ausdruck eines realen, erfüllbaren Wunsches in Losungen sowie in gehobener, pathetischer Rede;

Es lebe der Frieden in der ganzen Welt!

„Lang lebe der König! Es freue sich, |Wer da atmet im rosigten Licht!“ (F. Schiller)

Selim verneigte sich und sprach: „Dein Wille geschehe, o Herr!“ (W. Hauff)

2. zum Ausdruck eines Befehls, einer Aufforderung, die an eine dritte Person (bzw. dritte Personen) gerichtet wird (gleichfalls in der gehobenen, pathetischen Rede);

„Man bind' ihn an die Linde dort!“ (F. Schiller)

Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! (J. W. Goethe)

Rette sich, wer kann... (J. R. Becher)

Ihnen allen hatte Henri Barbusse das einfache und große Wort zugerufen: „Man befreie die Menschen, die verfolgt werden, weil sie die Menschen befreien wollen!“ (W. Bredel)

3. zum Ausdruck einer Anweisung, einer Aufforderung, einer Annahme (vorwiegend in der wissenschaftlichen, namentlich technischen Literatur; in Rezepten usw.). Als Subjekt des Satzes tritt in diesem Fall meist das unbestimmtpersönliche Pronomen man auf;

Man mache die Probe mit den angeführten Beispielen. (H. Paul).

Man nehme stets soviel Wasser, daß der Stoff darin schwimmt und von Wasser gut bedeckt ist. (Aus einer Anleitung zum Färben von Stoffen)

Eine Abart des Imperativischen Konjunktivs, gleichfalls in der wissenschaftlichen Literatur sowie in Vorträgen, Reden und dergleichen gebräuchlich, stellt das Verb sein im Präsens Konjunktiv mit dem Partizip II eines transitiven Verbs dar: es sei erwähnt, betont, bemerkt, hervorgehoben usw.

Zum Schluß sei betont, daß eine Ausspracheregelung niemals das Werk eines einzelnen sein kann... (Sprachpflege)

In diesem Zusammenhang sei noch ein Phänomen erwähnt. (F. C. Weiskopf)

Zum Ausdruck einer Annahme in arithmetischen und mathematischen Aufgaben, Theoremen usw. dient gleichfalls das Präsens Konjunktiv des Verbs sein.

Jetzt sei AD eine „Geneigte Ebene“, die man gewöhnlich... „Schiefe Ebene“ nennt. (A. Oettingen)

4. Der Gebrauch des Präsens Konjunktiv zum Ausdruck der Einräumung beschränkt sich auf einige mehr oder weniger erstarrte Wendungen.

,Du mußt das Taschentuch finden, koste es, was es wolle.' (J. R. Becher)

„Aber wir müssen uns behaupten, komme, was da wolle.“ (J. R. Becher)

(Über den Gebrauch des Perfekts und des Futurs Konjunktiv s. §§ 360 u. 382.)

§ 158. Die präteritalen Zeitformen. Alle Zeitformen des präteritalen Konjunktivs werden im selbständigen Satz gebraucht; sie drücken einen irrealen Wunsch, eine bedingte Möglichkeit, etwas Nichtwirkliches aus. In dieser ihrer Hauptbedeutung entspricht der präteritale Konjunktiv (und nur der präteritale!) dem russischen сослагательное наклонение. Vgl.:

Hätte er wenigstens eine Decke, um sich einzuwickeln. (W. Bredel) Было бы у него по крайней мере одеяло, чтобы укутаться.

§ 159. Das Präteritum und das Plusquamperfekt Konjunktiv dienen zum Ausdruck eines irrealen Wunsches (der optative Konjunktiv). Solche Sätze nennt man irreale Wunschsätze. Ihrer Form nach gleichen sie Nebensätzen mit der Konjunktion wenn (bzw. wenn doch (daß), daß doch) oder einem konjunktionslosen Nebensatz. Der Unterschied im Gebrauch des Präteritums und des Plusquamperfekts ist ein zeitlicher. Das Präteritum bezeichnet einen irrealen Wunsch, der sich auf die Gegenwart bzw. die Zukunft bezieht. Vom Standpunkt des Redenden ist solch ein Wunsch unerfüllbar, objektiv ist aber dessen Erfüllung oft nicht völlig ausgeschlossen.

Walter dachte: Wenn das Mutter in Hamburg wüßte! (W. Bredel)

Jaja! Ein Mensch ist er. Ein großer, ein wirklicher Mensch! Oh, wären doch alle Menschen so wie er! (W. Bredel)

O, daß sie ewig grünen bliebe, |Die schöne Zeit der jungen Liebe! (F. Schiller)

Das Plusquamperfekt bezeichnet einen irrealen Wunsch, der sich auf die Vergangenheit bezieht und deshalb vollkommen irreal ist.

„Wenn das Ihr seliger Herr Großvater noch erlebt hätte! (J. R. Becher)

„Gymnasiast“, bekam ich in der darauffolgenden Zeit so häufig zu hören, daß ich mir wünschte: ach, war' ich nur in der Volksschule geblieben! (J. R. Becher)

Beachten Sie die Stellung des finiten Verbs in den irrealen Wunschsätzen.

Anmerkung. In der Umgangssprache wird in den irrealen Wunschsätzen zuweilen auch der Konditionalis I gebraucht, der hier der Bedeutung und Funktionen nach mit dem Präteritum übereinstimmt.

Franz denkt: ,Wenn ich nur immer so weiter radeln könnte, wenn diese Straße nur nie nach Höchst führen würde.' (A. Seghers)

§ 160.Alle vier Zeitformen des präteritalen Konjunktivs (Präteritum, Plusquamperfekt, Konditionalis I und II) dienen zum Ausdruck einer irrealen bedingten Möglichkeit (der Potentiale Konjunktiv). Das Präteritum und der Konditionalis I bezeichnen einen Vorgang, dessen Verwirklichung vom Redenden als mehr oder weniger unwahrscheinlich empfunden wird.

Ruth?.. Er wußte doch gern, wie sie lebte, wie es ihr ging und — wie sie aussah. (W. Bredel)

So recht vorbereitet war nichts, er würde ganz gerne noch so sechs oder acht Wochen bleiben... (H. Fallada)

In dem allgemeinen Durcheinander und der Aufregung würde sie kaum vermißt werden. (W. Bredel)

Anmerkung. Besonders häufig wird der Konditionalis I von schwachen Verben gebraucht, deren Präteritum mit dem des Indikativs übereinstimmt.

Das Plusquamperfekt Konjunktiv bzw. der Konditionalis II (selten) bezeichnen einen Vorgang, dessen Verwirklichung vollkommen unwahrscheinlich ist; die Möglichkeit der Verwirklichung liegt oft in der Vergangenheit.

Diederich beeilte sich, ihr einen Stuhl zu holen; aber in Wirklichkeit wäre er lieber mit Bück allein gewesen... (H. Mann)

Marcel hätte sich gerne an diesen Gesprächen beteiligt, doch er getraute sich nicht. (W. Bredel)

Das Plusquamperfekt Konjunktiv wird meist gebraucht, wenn im Satz die Adverbien fast bzw. beinahe vorhanden sind.

Fast wäre er an dem Haus, in dem der Weber Emile Burzot wohnte, vorbeigelaufen. (W. Bredel)

Rumpf lachte. „Beinahe hätte ich den Grund Ihres Besuches vergessen“, begann er von neuem. (B. Kellermann)

Anmerkung. Der entsprechende russische Satz enthält die Negation не; vgl.:

Румпф засмеялся. „Я чуть не позабыл о цели вашего прихода“, — снова начал он.

§ 161.In einigen Fällen haben die Zeitformen des präteritalen Konjunktivs die ihnen sonst eigene Bedeutung der Irrealität nicht. Man gebraucht sie:

1. zum Ausdruck einer Behauptung, die vom Redenden aus Höflichkeitsgründen als eine Annahme, ein Vorschlag hingestellt wird (der sogenannte diplomatische Konjunktiv);

„Es wäre an der Zeit, daß der Gemeinderat unsere Geschicke in die Hand nimmt.“ (W. Bredel)

„Die Ereignisse, die ich Ihnen berichtet habe, dürften für sich sprechen.“ (K. Herrmann)

2. in Feststellungen (häufig mit emotionaler Färbung), in denen der Abschluß einer Handlung als Resultat begrüßt wird (der sogenannte konstatierende Konjunktiv);

„Da wären wir alle beisammen“, bemerkte der Advokat... (H. Mann)

Als er einmal das Buch ganz auf die Knie herabsinken ließ und hinauf in den blauen, sonnigen Himmel blinzelte, sagte er zu sich: Das wären nun dreißig Jahre. (Th. Mann)

Manchmal haben solche Äußerungen einen ironischen Beiklang.

So hätte ich mich dennoch an Goethe festgeschwatzt. (H. Heine)

„Da haben wir uns ja schön hereinlegen lassen“, erzählte er der Hündin Caprice, „da wären wir ja schön hereingefallen.“ (L. Feuchtwanger)

Da hätten wir die Bescherung!

3. im Fragesatz, dessen Inhalt vom Redenden als zweifelhaft und unwahrscheinlich empfunden wird. Häufig gehen solche zweifelnden Fragen in Ausrufe der Verwunderung und des Unwillens über.

Claudia: Räuber wären es gewesen, die uns anfielen? — Mörder waren es; erkaufte Mörder! (G. E. Lessing)

Hinrich Willmers sprang auf. „Was sagst du da? Steeven hätte Carl denunziert?“ (W. Bredel)

(Über den Gebrauch des Konjunktivs in den Nebensätzen siehe die entsprechenden Paragraphen der Syntax.)

DIE MODALVERBEN

§ 162.Es gibt in der deutschen Sprache außer der grammatischen Kategorie des Modus verschiedene andere Mittel, die Modalität des Satzes auszudrücken. Das wichtigste dieser Mittel sind die sogenannten Modalverben, die eine besondere Gruppe von Verben darstellen.

Diese Gruppe besteht aus folgenden 7 Verben: dürfen, können, lassen, mögen, müssen, sollen, wollen.

Im Gegensatz zur grammatischen Kategorie des Modus bezeichnen die Modalverben nicht nur das Verhalten des Redenden zur Realität der Aussage (s. § 225), häufiger noch bezeichnen sie das Verhalten des Subjekts des Satzes zu dem Vorgang, der durch den Infinitiv ausgedrückt wird. Im ersten Fall wird das Modalverb vorwiegend mit dem Infinitiv II gebraucht, im zweiten Fall nur mit dem Infinitiv I. Die Bedeutung der Modalverben ist viel konkreter und an Schattierungen reicher als die Bedeutung des Modus mit seinem verallgemeinernden, abstrakt-grammatischen Wesen, um so mehr als die Modalverben ihrerseits sowohl im Indikativ als auch im Konjunktiv gebraucht werden können.

Die Modalverben können eine Möglichkeit, eine Notwendigkeit, eine Annahme, einen Befehl, einen Wunsch ausdrücken. Alle Modalverben sind vieldeutig; jedes hat eine Grundbedeutung und einige Nebenbedeutungen.

§ 163.Das Verb können bezeichnet:

1. eine Möglichkeit (bzw. Unmöglichkeit), die durch verschiedene Umstände bedingt ist (physische Kraft, Fähigkeit, Wissen, Erlaubnis);

„Man muß ausrechnen, wieviel vier Mann in der Woche schaffen können.“ (E. Claudius)

„Nein!“ rief er, „und abermals nein! Meine Überzeugung kann ich nicht verraten!“ (H. Mann)

„Man kann indessen nie wissen, ob nicht Komplikationen eintreten“, entgegnete die Schwester... (B. Kellermann)

„Sie können sich setzen“, sagte der Vorsitzende und blickte in den Saal. (L. Frank)

2. eine Annahme.

Die Geschichte dieses Enno Kluge kann wahr sein, sie ist sogar höchstwahrscheinlich wahr... (H. Fallada)

Dann dachte er wieder: ,Es kann ja doch ein Spitzel gewesen sein. Der Name des Bootes? Den kann man schon längst herausgebracht haben.' (A. Seghers)

§ 164.Das Verb dürfen bezeichnet:

1. eine Möglichkeit, die durch eine Erlaubnis, ein Recht bedingt ist;

„Ich bin auch Sozialdemokrat“, rief Johann Hardekopf erregt. „Bin aus Bochum, aus dem Ruhrgebiet. Ob ich wohl mitgehn darf?“ Er durfte sich einreihen. (W. Bredel)

Bestellungen, auf die Diederich rechnen durfte, blieben aus. (H. Mann)

2. ein Verbot (immer mit einer Negation);

Im Wirbel sah sie... das Schild über der Kapelle: mit brennender Zigarette darf nicht getanzt werden. (E. Claudius)

Keine sozialdemokratische Zeitung durfte erscheinen... (W. Bredel)

3. eine Behauptung, die aus Höflichkeitsgründen als eine bescheidene Annahme hingestellt wird. In diesem Fall steht das Verb dürfen im Präteritum Konjunktiv. (Vgl. § 161.)

„Die Nachrichten“, sagte er, „dürften übertrieben sein, wie so oft.“ (L. Feuchtwanger)

§ 165.Das Verb mögen bezeichnet:

1. einen Wunsch; dabei kann es sowohl im Indikativ als auch im Konjunktiv stehen;

Diesen Drang, wegzugehen..., ich hab' ihn nicht. Ich mag hier immer bleiben von mir aus. (A. Seghers)

Er hätte laut aufjubeln mögen. (W. Bredel)

Im Präsens Konjunktiv bezeichnet das Verb mögen einen realen Wunsch (meist in gehobener Sprache).

Der Tapezierer brütete vor sich hin. Möge das Unglück, möge der Mensch an seiner Tür vorbeigehen. Möge ihm rasch seine Flucht gelingen. Möge er eher — vorher gefangen werden? Nein, das wünschte er selbst seinem Feind nicht. (A. Seghers)

Im Präteritum Konjunktiv bezeichnet das Verb mögen einen realen Wunsch (in bescheidener Form) und kommt sehr oft in der Umgangssprache vor.

„Nein, ich möchte mit Andrytzki arbeiten, und ich glaub, er wird mir helfen.“ (E. Claudius)

„Ich möchte Arzt werden“, sagte er eines Tages zum Vater. (W. Joho)

2. eine Möglichkeit;

„Das mag wohl wahr sein“, sagte Wilhelm... (J. W. Goethe)

Eine Viertelstunde nur mag seit der Ankunft des Zuges vergangen sein, als die Sirene unseres Dampfers ertönt... (E. Welk)

3. eine Einräumung (in Konzessivsätzen sowie in einem zusammengesetzten Satz, dessen einer Bestandteil einräumende Bedeutung hat).

„Da muß ich Ihnen leider sagen, so unpopulär das vielleicht in diesem Kreise auch sein mag: mit diesen Menschen müssen wir rechnen...“ (J. R. Becher)

Und Diederich mochte sich empören oder um Gnade flehen, er mußte auf ein Blatt Papier schreiben, daß er für das Gewerkschaftshaus nicht nur selbst stimmen, sondern auch die ihm nahestehenden Stadtverordneten bearbeiten werde. (H. Mann)

Das Verb mögen kann auch selbständig als transitives Verb in der Bedeutung „gern haben“, „lieben“ gebraucht werden.

„Siehst du, Anna“, sagte er dann. „So mag ich dich. Wir haben keine Angst.“ (H. Fallada)

§ 166.Das Verb müssen bezeichnet:

1. eine zwingende Notwendigkeit, bei der eine Nichterfüllung nicht geduldet wird;

Seine Beine werden ganz kraftlos, er muß sich setzen. (B. Kellermann)

Zillich? Wird ihn Fahrenberg wieder dahin holen, wohin man ihn selbst schickt? Oder muß er allein in Westhofen bleiben? (A. Seghers)

2. eine Annahme, mit ziemlicher Sicherheit geäußert.

„Ich habe einen Schlüssel, und mein Mann muß auch in der Wohnung sein, es steckt ein Schlüssel von innen.“ (A. Scharrer)

Ja, Johann Buddenbrook mußte diese erste Gattin... in rührender Weise geliebt haben... (Th. Mann)

§ 167.Das Verb sollen bezeichnet:

1. Eine Notwendigkeit, bei der eine Nichterfüllung nicht ausgeschlossen ist;

„Er ist Schuster, sagen sie, und Schuster soll er bleiben.“ (B. Brecht)

Abends sollte Dallmann die vier Gefangenen... den Versaillern übergeben. (W. Bredel)

2. eine Aufforderung; einen Befehl (oft an dritte Personen);

Gegen die Freiheit sollte niemand Krieg führen. (H. Mann)

„Sie sollen mir folgen, und zwar möglichst unauffällig!“ (W. Bredel)

Er verlangte, sie solle sich auf den Diwan setzen, und sie setzte sich. (H. Mann)

Sollen dient auch zum Ausdruck einer Frage, auf die ein Rat, eine Aufforderung bzw. ein Befehl erwartet wird.

„Die Mutter ist schuld“, dachte der kleine Groh. „Sie hat mir zur Vorsicht geraten. Gerade das darf ich ihnen nicht sagen... Was soll ich nur tun?“ (A. Seghers)

Er fragte sich, ob er ihr alles sagen sollte... (B. Brecht)

3. einen indirekten Wunsch, zuweilen eine Drohung;

Er soll es nur nicht zu weit treiben. (H. Mann)

„Der alte Bück soll sich hüten!“ (H. Mann)

4. eine zweifelnde Annahme (in Frage- bzw. Konditionalsätzen) ;

Heinrich, das wußte sie, war ein braver Junge, guter Eltern Sohn, hatte ihr keinen Dunst vorgemacht. Sollte er etwas angestellt haben in der Art wie Georg? (A. Seghers)

„Soll das ein Bett vorstellen?“ sagte Georg. (A. Seghers)

„Den Römern würde gewiß nicht Zeit genug übriggeblieben sein, die Welt zu erobern, wenn sie das Latein erst hätten lernen sollen.“ (H. Heine)

„Und wenn er kommen sollte“, setzte er hinzu, „nun, wir werden sehen.“ (E. Claudius)

Zuweilen gehen solche Fragen in Ausrufe des Staunens bzw. des Unwillens über.

Frau Hardekopf — immer noch stumm — mustert die Fremde von Kopf bis Fuß. Besonders die Füße. Schwere Schnürstiefel mit fingerdicken Sohlen sind das... 'Füße?', denkt sie, 'Füße sollen das sein?' (W. Bredel)

5. eine Behauptung, die sich auf eine fremde, vom Redenden nicht überprüfte Aussage stützt;

„Der Oberst soll nämlich behaupten, er habe gar kein Telegramm bekommen.“ (H. Mann)

Paul Papke... sollte, wie ihr Schwiegersohn Paul Gehl erzählte, sogar Direktor geworden sein. (W. Bredel)

6. die Zukunft.

„Oh!“ — Agnes sah ihn an, „was aus Ihnen alles geworden ist! Und jetzt sind Sie wohl schon Doktor?“ — „Das soll jetzt kommen.“ (H. Mann)

Zuweilen bezeichnet sollen die Zukunft in bezug auf die Vergangenheit.

Ein Jahr später sollen sich beide aus freiem Entschluß zu dem todgeweihten Robespierre bekennen; auch im Tod wollten sie bei ihm bleiben. (W. Bredel)

§ 168.Das Verb wollen bezeichnet:

1. einen Wunsch, eine Absicht;

„Wir wollen morgen in aller Frühe im Wagen in die Campagna fahren.“ (B. Kellermann)

„Ich wollte das Haus schon jemandem schenken, aber niemand wollte es haben, ich hoffe, daß es bald einfällt.“ (B. Kellermann)

2. die Zukunft;

„Wenn mein Büro heut nachmittag aus ist, will ich zu meinem Vater fahren.“ (A. Seghers)

3. eine Aufforderung, wobei der Sprechende mit inbegriffen ist;

Es folgten Ausrufe: „Ach, wollen wir uns lieber gar nicht mehr daran erinnern!“ (J. R. Becher)

„Also schön, ruhen Sie sich einen Augenblick aus. Sie werden schon Vernunft annehmen. Wollen wir uns hier hinsetzen?“ Und wieder faßte er nach Kluges Arm. (H. Fallada)

In der 2. bzw. 3. Person gebraucht, bezeichnet das Verb wollen eine betont höfliche Aufforderung.

„Wollen Sie bitte der Reihe nach hereinkommen, meine Herrschaften.“ (F. Erpenbeck)

4. einen Befehl in schroffer Form;

Willst du endlich einmal gehorchen!

5. Eine Behauptung, die vom Subjekt des Satzes ausgeht, jedoch vom Sprechenden nicht überprüft worden ist und daher angezweifelt wird.

„Ein Briefchen von meinem Herrn an das gnädige Fräulein, das seine Schwester sein will“. (G. E. Lessing)

Dieser wollte am vorigen Morgen in der Sprechstunde des Arztes Löwenstein einen verdächtigen Mann bemerkt haben... (A. Seghers)

§ 169.Die Modalverben müssen, wollen, können, sollen können in ihrer Hauptbedeutung zuweilen auch ohne Infinitiv gebraucht werden. Meist enthält; dann der Satz eine Adverbialbestimmung des Ortes, ein direktes Objekt usw.

„Es darf niemand ins Haus ohne seine ausdrückliche Erlaubnis!“ (L. Feuchtwanger)

Wohin wollte er eigentlich? Er wußte nur, daß er noch nicht nach Haus konnte. (W. Bredel)

Er hatte schon am folgenden Tag aus der Stadt gemußt. (A. Seghers)

„Nun, wo sie das Kind haben, wollten sie ihr eigenes Heim.“ (W. Bredel)

Er mußte sofort zu diesem Mann aus Röders Abteilung... (A. Seghers)

„Er dachte zehnmal in einer Stunde: Ich hätte es doch gesollt“... (A. Seghers)

§ 170.Das Verb lassen nimmt eine Sonderstellung unter den Modalverben ein. Seine Eigentümlichkeit besteht darin, daß es nicht nur modale Bedeutungen besitzt, sondern auch

als Vollverb gebraucht wird. Als Modalverb bezeichnet lassen:

1. eine Erlaubnis, ein Zulassen;

Ohne jeden Widerstand ließ sich der kleine alte Mann von Kunze zum Sessel zurückführen. (B. Kellermann)

„Ich laß mich nicht fangen“, sagte er sich, während er lief. (B. Balazs)

2. einen Befehl, eine Aufforderung, eine Bitte;

Die Großmutter ließ sich von Christine noch einen Schal bringen. (J. R. Becher)

Leutnant Maurice rief die Wache und ließ seinen ehemaligen Vorgesetzten abführen. (W. Bredel)

„Lassen Sie uns die Hoffnung nicht verlieren, Gleichen!“ versetzte Wolf gang. (B. Kellermann)

„Jetzt laß nicht wieder so 'ne Pause in der Freundschaft eintreten.“ — „Nein, Liesel.“ (A. Seghers)

3. eine Möglichkeit, eine Erlaubnis (in reflexiven Wendungen mit passiver Bedeutung).

„Das läßt sich hören“, sagte Lotte. (J. W. Goethe)...es läßt sich hier auch, ehe man seinen Arbeitsplatz aufsucht, noch gut ein Augenblick verplaudern. (E. Claudius)

Als Vollverb bedeutet lassen etwas bzw. jemanden verlassen, zurücklassen.

Dann ließen die Eltern Kätchen mit Diederich allein... (H. Mann)

„Wo hast du den Vater gelassen? Wo bleibt nur der Vater?“ fragte die Mutter durch die Tür. (J. R. Becher)

Als die Mutter klopfte, rief ich: „Laß mich!“ (J. R. Becher)

Das Vollverb lassen tritt häufig als Bestandteil von phraseologischen Wendungen auf: am Leben lassen, außer acht lassen, im Stich lassen, aus dem Spiel lassen, kein Auge von etwas oder jemandem lassen, es gut sein lassen, sich etwas (nicht) gefallen lassen, die Finger von etwas lassen u. a. m.

„Lassen Sie mich in Ruh'. Ihren Brief habe ich nicht mehr.“ (H. Mann)

„Es ist einfach deine Pflicht, mir zu helfen... Du darfst mich nicht im Stich lassend (J. R. Becher)

(Über die übrigen Mittel, die zum Ausdruck der Modalität dienen, s. § 224 ff.)

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