Der hellgraue Frühjahrsmantel
Vor zwei Monaten – wir saßen gerade beim Frühstück – kam ein Brief von meinem Vetter Eduard. Mein Vetter Eduard hatte an einem Frühlingsabend vor zwölf Jahren das Haus verlassen, um, wie er behauptete, einen Brief einzustecken, und war nicht zurückgekehrt. Seitdem hatte niemand etwas von ihm gehört. Der Brief kam aus Sydney in Australien. Ich öffnete ihn und las:
Lieber Paul!
Könntest Du mir meinen hellgrauen Frühjahrsmantel nachschicken? Ich kann ihn nämlich brauchen, da es oft hier empfindlich kalt ist, vor allem nachts. In der linken Tasche ist ein „Taschenbuch für Pilzsammler“. Das kannst du herausnehmen und behalten. Essbare Pilze gibt es hier nämlich nicht. Im Voraus vielen Dank.
Herzlichst Dein Eduard.
Ich sagte zu meiner Frau: „Ich habe einen Brief von meinem Vetter Eduard aus Australien bekommen.“ Sie war gerade dabei, den Tauchsieder in die Blumenvase zu stecken, um Eier darin zu kochen, und fragte: „So, was schreibt er?“
„Dass er seinen hellgrauen Mantel braucht und dass es in Australien keine essbaren Pilze gibt.“ – „Dann soll er doch etwas anderes essen.“ – „Da hast du Recht“, sagte ich, obwohl sich eigentlich darum nicht gehandelt hatte.
Später kam der Klavierstimmer. Es war ein etwas schüchterner und zerstreuter Mann, ein wenig weltfremd sogar, aber er war sehr nett und natürlich sehr musikalisch, ich kannte ihn. Er stimmte nicht nur Klavier, sondern reparierte Saiteninstrumente und erteilte Blockflötenunterricht. Er hieß Kolhaas. Als ich vom Tisch aufstand, hörte ich ihn schon im Nebenzimmer Akkorde anschlagen.
In der Garderobe sah ich den hellgrauen Mantel hängen. Meine Frau hatte ihn also schon vom Speicher geholt. Das wunderte mich, denn gewöhnlich tut meine Frau die Dinge erst dann, wenn es gleichgültig geworden ist, als ob sie getan sind oder nicht. Ich packte den Mantel sorgfältig ein, trug das Paket zur Post und schickte es ab. Erst dann fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, das Pilzbuch herauszunehmen. Aber ich bin kein Pilzsammler.
Ich ging noch etwas spazieren, und als ich nach Hause kam, irrten der Klavierstimmer und meine Frau in der Wohnung umher und schauten in die Schränke und unter die Tische.
„Kann ich irgendwie helfen“, fragte ich.
„Wir suchen Herrn Kolhaas` Mantel“, sagte meine Frau.
„Ach so“, sage ich, meines Irrtums bewusst, „den habe ich eben nach Australien geschickt.“
„Warum nach Australien?“ fragte meine Frau.
„Aus versehen“, sagte ich.
„Dann will ich nicht weiter stören“, sagte Herr Kolhaas etwas betreten, wenn auch nicht besonders erstaunt, und wollte sich entschuldigen, aber ich sagte: „Warten Sie, Sie können dafür den Mantel von meinem Vetter bekommen.“
Ich ging auf den Speicher und fand dort in einem verstaubten Koffer den hellgrauen Mantel meines Vetters. Er war etwas zerknittert – schließlich hatte er zwölf Jahre im Koffer gelegen – aber sonst in gutem Zustand.
Meine Frau bügelte ihn noch etwas auf, während ich mit Herrn Kolhaas eine Partie Domino spielte. Dann zog Herr Kolhaas ihn an, verabschiedete sich und ging.
Wenige Tage später erhielten wir ein Paket. Darin waren Steinpilze. Auf den Pilzen lagen zwei Briefe. Ich öffnete den einen und las:
Lieber Herr Holle. (so heiße ich)
da Sie so liebenswürdig waren, mir ein „Taschenbuch für Pilzsammler“ in die Tasche zu stecken, möchte ich Ihnen als Dank das Resultat meiner ersten Pilzsuche zuschicken und hoffe, dass es Ihnen schmecken wird. Außerdem fand ich in der anderen Tasche einen Brief, den Sie mir wohl irrtümlich mitgegeben haben, Ich schicke ihn hiermit zurück.
Ergebenst Ihr A.M. Kolhaas.
Der Brief, um den es sich handelte, war also wohl der, den mein Vetter damals in den Kasten stecken wollte. Offenbar hatte er ihn dann mitsamt dem Mantel zu Hause vergessen. Er war an Herrn Bernhard Hase gerichtet, der, wie ich mich erinnerte, ein Freund meines Vetters gewesen war. Ich öffnete den Umschlag. Eine Theaterkarte und ein Zettel fielen heraus. Auf dem Zettel stand:
Lieber Bernhard!
Ich schicke Dir eine Karte zu „Tannhäuser“ nächsten Montag, von der ich keinen Gebrauch machen werde, da ich verreisen möchte, um ein wenig auszuspannen. Vielleicht hast Du Lust, hinzugehen. Die Schmidt-Hohlweg singt die Elisabeth. Du schwärmst doch immer so von ihren hohen Gis.
Herzliche Grüße, Dein Eduard.
Zum Mittagessen gab es Steinpilze. „Die Pilze habe ich hier auf dem Tisch gefunden. Wo kommen sie eigentlich her?“ fragte meine Frau.
„Herr Kolhaas hat sie geschickt.“
„Wie nett von ihm. Es wäre doch nicht nötig gewesen.“
„Nötig nicht“, sagte ich , aber er ist eben sehr nett“.
„Hoffentlich sind sie nicht giftig. – Übrigens habe ich auch eine Theaterkarte gefunden. Was wird denn gespielt?“
„Die Karte, die du gefunden hast“, sage ich, „ist zu einer Aufführung von „Tannhäuser“, aber die war vor zwölf Jahren.“ „Na ja“, sagte meine Frau, „zu Tannhäuser hätte ich sowieso keine große Lust gehabt.“
Heute Morgen kam wieder ein Brief von Eduard mit der Bitte, ihm eine Tenorblockflöte zu schicken. Er habe nämlich in dem Mantel (der übrigen seltsamerweise länger geworden sei, es sei denn, er sei selbst kürzer geworden) ein Buch zur Erlernung des Blockflötenspiels gefunden und gedenke, davon Gebrauch zu machen. Aber Blockflöten seien in Australien nicht erhältlich.
„Wieder ein Brief von Eduard“, sagte ich zu meiner Frau. Sie war gerade dabei, die Kaffeestühle auseinander zu nehmen und fragte: „Was schreibt er?“
„Dass es in Australien keine Blockflöten gibt.“ –
„Dann soll er doch ein anderes Instrument nehmen“, sagte sie.
„Das finde ich auch“, meinte ich.
Meine Frau ist von erfrischender, entwaffnender Sachlichkeit. Ihre Repliken sind zwar nüchtern, aber erschöpfend.
Aufgaben
Arbeit am Wortschatz
1. Worauf weist das Bestimmungswort des Substantivs Taschenbuch hin?
In welcher Wortgruppe wird das Kompositum im Text verwendet?
2. Erläutern Sie die Bedeutung des Kompositums der Tauchsieder.
3. Erläutern Sie die Bedeutung des Adjektivs weltfremd.
Aufgaben zum Inhalt und zur sprachlichen Gestaltung des Textes
1. Welche Ereignisse liegen dem Sujet der Geschichte zu Grunde?
2. geben sie den Inhalt des Textes in der Er-Form wieder.
3. Welche inhaltlichen Momente schaffen den humoristischen Ton dieser Geschichte?
Welche Situationen und Handlungen empfinden Sie als komisch?
4. In Bezug auf welche Personen verwendet der Verfasser charakterisierende Epitheta?
5. Charakterisieren Sie den Erzähler und seinen Vetter anhand ihrer Handlungen.
6. Charakterisieren Sie die Sprache von Wolfgang Hildesheimer hinsichtlich des Satzbaus und
des Wortgebrauchs.
7. Verwendet der Verfasser Mittel der Bildlichkeit oder vermeidet er sie?
Zusätzliche Aufgaben
1. In welcher Bedeutung ist das Adjektiv nüchtern im Text gebraucht:
a) mit leerem Magen; b) sachlich; c) durch Alkoholgenuss nicht beeinträchtigt
2. Welche zusätzliche Bedeutung erhält das Verb schicken durch die Präfixe zu-, nach-?
Finden Sie im Text entsprechende Stellen.
Zusätzliche Fragen
1. was wissen sie von Australien als Kontinent und Staat?
2. Wie ist der Name des Komponisten, des Autors der Oper „Tannhäuser“?
3. Erläutern Sie den musikalischen Terminus Gis.
4. Welche Musikinstrumente gehören zu den Saiteninstrumenten?
Zu welchen Instrumenten gehören das Klavier und die Flöte?
Peter Bichsel