Dolmetschstrategien beim Simultandolmetschen

Die Dolmetschstrategien wurden umfangreich untersucht. Chernov (1980, 2009), Snelling (1989), Pöchhacker (1994), Kurz (1996), Kalina (1998), Kucharska (2009) und andere Autoren haben ihnen ihre Werke gewidmet. Dabei ist es wichtig, zu erwähnen, dass der Begriff „Strategie“ nicht der einzige ist, den man in diesem Zusammenhang benutzt. Es gibt viele andere Fachwörter, die in wissenschaftlicher Literatur benutzt werden, um dasselbe zu beschreiben, zum Beispiel, „Methode“, „Veränderung“, „Transformation“, „Operation“ und andere Termini (vgl. Chesterman 2005:17).

Andrew Chesterman schreibt in seinem Artikel Problems with strategies, dass es die Wissenschaftler schon immer interessiert hat, wie man am besten beschreiben kann, wie die Dolmetscher den Ausgangstext in den Zieltext verwandeln. Die Beziehung zwischen diesen zwei Texten wird als „äquivalent“ oder „gleichwertig“ bezeichnet. Aber was genau müssen die Dolmetscher zur Entstehung dieser Beziehung beitragen? Sie müssen verschiedene „Operationen“, „Techniken“, „Strategien“, „Methoden“ benutzen, die ihnen helfen, dieses Ziel zu erreichen. Chesterman stellt die Frage, ob alle diese Wörter Synonyme sind, ob wir sie alle benötigen und was sie genau bedeuten. Eine abschließende Antwort darauf findet er nicht. Chesterman bedauert die Tatsache, dass verschiedene wissenschaftliche Schulen verschiedene Termini benutzen, was damit erklärt werden kann, dass die wissenschaftliche Disziplin, die sich damit beschäftigt, noch relativ jung ist. Das erschwert aber, seiner Meinung nach, die Untersuchung dieser Prozesse, besonders wenn man sie klassifizieren oder kategorisieren möchte. In seinem Artikel gibt er einen kurzen Überblick über die Entstehung und frühere Benutzung dieser Fachwörter: Er schreibt zum Beispiel, dass die Begriffe „Operationen“ oder „Transfers“ zuerst eher metaphorisch verwendet wurden, ohne dass dahinter ein konkreter technischer Prozess steckte (vgl. Chesterman 2005:17-18).

Die Vielfalt der Fachwörter, die diese Prozesse beschreiben, ist laut Chesterman nicht nötig. Sie spiegelt aber die Vielseitigkeit der Analysen und Untersuchungen wider, die zu diesem Thema durchgeführt wurden. So beschreibt er vier Standpunkte, von denen aus dieses Problem betrachtet werden kann. Das sind vier Gegenüberstellungen:

1. das Ergebnis vs. den Prozess: Der Begriff „Strategie“ wird als Beschreibung eines kognitiven Prozesses benutzt, dabei führen einige AutorInnen an, dass man sich eher auf die Ergebnisse dieser Prozesse konzentrieren sollte.

2. linguistischer vs. kognitiver Ansatz: Diese Strategien sind gleichzeitig mental und linguistisch, genauer gesagt, sie sind psycholinguistisch.

3. problemlösende vs. routinemäßige Strategien: Manche AutorInnen sind der

Meinung, dass man die Strategien nur dann benutzt, wenn man während des Dolmetschens ein Problem zu bewältigen hat. Einige denken aber, dass die Benutzung von Strategien eine alltägliche Beschäftigung beim Dolmetschen ist.

4. globale vs. lokale Strategien: Manche AutorInnen verwenden den Begriff

„Strategie“ für die Beschreibung globaler, genereller Prozesse, die während der Translation auftreten, andere benutzen diesen Begriff im Sinne der strategischen Entscheidungen, die man jedes Mal treffen muss.

Diese verschiedenen Ansätze, die bei den Untersuchungen der Dolmetschstrategien

verwendet werden, erklären die Vielfalt der existierenden Termini (vgl. Chesterman 2005:19-22).

Chesterman (2005:26) bietet seine eigene Lösung an, wie man alle Termini vereinheitlichen kann. Er schlägt vor, den Begriff „Methode“ für die allgemeine Weise (und nicht für eine konkrete dolmetschspezifische Entscheidung) des Dolmetschens zu verwenden.

Den Begriff „Technik“ sollte für textuelle Prozesse verwendet werden, die auf der

Mikroebene verlaufen. Für die Beschreibung der Ergebnisse des Dolmetschprozesses bietet er den Begriff „Änderung“ an. Den Begriff „Strategie“ schlägt er vor nur dann zu benutzen, wenn es um die Problemlösung und nicht um die routinemäßige Tätigkeit geht (Chesterman 2005:26).

Als eine kurze Zusammenfassung dieses Abschnitts kann man Folgendes festhalten: Für die Beschreibung des dolmetschspezifischen Handelns, der Entscheidungen, die die Dolmetscher während der Arbeit ständig treffen müssen, gibt es in der wissenschaftlichen Literatur verschiedene Termini: Methoden, Operationen, Transformationen, Techniken, Änderungen und andere. Sie alle spiegeln verschiedene Betrachtungswinkel wider, aus denen man diese Prozesse untersuchen kann. Diese Vielfalt ist aber sehr verwirrend und erschwert die Analyse dieser Prozesse (vgl. Chesterman 2005:17-22). Das Simultandolmetschen ist ein komplexer Vorgang, für dessen Bewältigung man unbedingt verschiedene Strategien benutzen muss: Die Dolmetscher entscheiden sich jedes Mal zielorientiert für eine Strategie. Dabei muss man erwähnen, dass es selten isolierte Strategien sind, viel öfter werden mehrere gleichzeitig benutzt (vgl. Wörrlein 2007:27). Die Wahl der Strategien muss jedes Mal an die konkrete Aufgabe, an die Präsentation des Ausgangstextes und an die Anforderungen des Publikums angepasst werden (vgl. Kalina 1998:113). Die Dolmetschstrategien können unterschiedlich kategorisiert werden.

Ich finde die Kategorisierung von Kalina (1998) relevant, die alle Strategien in zwei Gruppen teilt: die Strategien für das Verstehen und für die Speicherung des Ausgangstextes und die Strategien für die Produktion des Zieltextes. Die Strategien der zweiten Gruppe teilen sich wiederum in Ausgangstext-bestimmte und Zieltext-bestimmte Strategien. Zieltext-bestimmte Strategien haben oft das Ziel, den Zieltext zu verändern. Manche Änderungen sind obligatorisch (was durch mehrere Gründe, zum Beispiel durch die strukturellen Unterschiede der betroffenen Sprachen, erklärt werden kann), manche fakultativ. Bevor aber diese Änderungen durchgeführt werden, müssen sie „gefiltert“ werden. Es gibt viele Filter, am wichtigsten sind aber die extralinguistischen: pragmatische und situative. Sie bestehen darin, dass man das kommunikative Ziel der Redner und die Normen der Sprechsituation beachten soll (vgl. Lvovskaja 1985:163- 168).

  • 1 Antizipation
  • 2 Inferenzieren
  • 3 Segmentierung
  • 4 Transformieren
    • 4.1 Reformulieren,
    • 4.2 Nominalisieren
  • 5 Transcodieren
  • 6 Auslassen
  • 7 Notstrategien

Antizipation

Dieser Begriff leitet sich vom lateinischen Begriff anticipatio ab, was soviel bedeutet wie ursprüngliche Vorstellung und Vorbegriff. Der Duden meint: Vorwegnahme von etwas, was erst später kommt oder kommen sollte, von zukünftigem Geschehen.

In der Dolmetschwissenschaft ist die Antizipation eine allgemein anerkannte Strategie, die bereits im Jahr 1952 erstmal von Herbert in Bezug zum Konferenzdolmetschen erwähnt wurde. Gemeinhin wird Antizipation als Vorgriff auf Inhalte einer Rede definiert, bevor der Sprecher eine Sinneinheit beendet hat. Dabei werden auch Elemente, die gleichzeitig wie jene der Redner geäußert werden als Antizipation betrachtet. Dieser Quasi-Gleichzeitigkeit muss nämlich ein Verarbeitungsprozess und folglich eine antizipierte Sinnannahme vorangegangen sein.

Generell kann ein Dolmetscher um so mehr vorweg nehmen, je mehr Informationen ihm zur Verfügung stehen. Ohne solche Vorkenntnisse muss der Dolmetscher auf andere Strategien ausweichen. Die inhaltliche und fachliche Vorbereitung auf einen Dolmetscheinsatz erleichtern also die Antizipation.

Gestützt auf seine vorbereitende Recherche, d. h. auf sein Welt- und spezielles Sachwissen zu Anlass, Thema und voraussichtlichem Inhalt der Rede, zur Person des Redners und dessen evtl. von früheren Anlässen her bekannten Auffassungen etc. baut der Dolmetscher - jeder Dolmetscher! - vor der Rede ein Erwartungsschema auf, das ihm das Verstehen, auch das antizipierende Verstehen von noch nicht (fertig) Ausgesprochenem, erleichtert.

  • Sprachlich präzise, gut strukturierte und informative Reden erleichtern das Antizipieren. Sie stellen zwar oftmals hohe Anforderungen an die Verstehens- und Transferkompetenz des Dolmetschers, erleichtern ihm aber auch das Mitdenken und so die Antizipation.
  • Freie Reden sind hingegen oft weniger logisch aufgebaut, mit Einschüben gespickt und häufig werden wichtige Informationen nicht explizit ausgedrückt, was das Antizipieren deutlich erschwert. Eine offene Satzplanung ist hier ratsam.

Die Antizipation soll das Gedächtnis entlasten und so Kapazitäten frei machen. Dabei ist das eigentliche Ziel, den Verstehensprozess des Originals zu „überspringen“, wodurch die Verarbeitung des bereits antizipierten Teilstücks wegfällt und es direkt zur Aktivierung der Zielsprache kommen kann. So werden Verarbeitungs- und Aufmerksamkeitskapazitäten eingespart, welche daraufhin für andere Operationen zur Verfügung stehen, wodurch die Gedächtniskapazität generell entlastet und die Häufigkeit der im Zusammenhang mit Kapazitätenmangagement auftretenden Probleme verringert werden kann.

Man kann zwei Arten der Antizipation unterscheiden:
  • sense expectation (top-down)

Dies ist eine semantische Antizipation. Der Dolmetscher nutzt im Langzeitgedächtnis gespeichertes Allgemeinwissen sowie Wissen über den Anlass, das Thema und den voraussichtlichen Inhalt der Rede. Das funktioniert nur, wenn sich der Dolmetscher gut auf die Rede vorbereitet hat.

Beispiel: Heute gehen in Cancun die internationalen Klimaverhandlungen.. [zu ende] (Wurde aus Weltwissen ergänzt; hätte auch „weiter“ sein können)

  • word prediction (bottom-up)
    Das im Langzeitgedächtnis gespeicherte Wissen über die semantische und syntaktische Struktur der Ausgangssprache ermöglicht eine syntaktische Antizipation. Der Dolmetscher kann den Verlauf der Rede antizipieren und sie dadurch leichter verarbeiten.
  • Kollokationen: Auf „einerseits“ muss „andererseits“ folgen.

In der Regel lässt sich beim Dolmetschen aus der eigenen Muttersprache am besten antizipieren. Auch die Sprachrichtung ist wichtig:

  • Beim Dolmetschen z.B. aus dem Französischen, Spanischen oder Englischen ins Deutsche ist Antizipation kaum nötig, da die Verben in der Regel früh genannt werden.
  • Andersherum hingegen spielt diese Strategie eine wesentlich bedeutendere Rolle, da Verben im Deutschen meist erst am Ende kommen.

Aus diesem Anlass möchte ich Ihnen eine Kurzgeschichte vorlesen:

In den Tagen, als Bismarck der größte Mann Europas war, wollte eine Amerikanerin, die zu Besuch in Berlin war, unbedingt den Kanzler sprechen hören. Sie besorgte sich zwei Zulasskarten für die Zuschauergalerie des Reichstages und einen Dolmetscher. Sie hatten Glück: kurz nach ihrem Eintreffen griff Bismarck in die Debatte ein und die Amerikanerin rückte dicht an den Dolmetscher heran, um nichts von der Übersetzung zu verpassen. Doch obwohl Bismarck schon eine ganze Zeitlang sprach, blieb der Dolmetscher stumm, und er reagierte auch nicht, als sie ihn anstieß. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus: “Was sagt er denn?” “Geduld, Madam”, entgegnete der Dolmetscher, “Ich warte noch auf das Verb”.

Zusammengesetzte Verbkonstruktionen können im Deutschen besonders gut antizipiert werden, z.B. „Fortschritte“ „machen“ Beispiel: Ich habe gestern in Berlin ihren Präsidenten, sowie eine Delegation von hochrangigen Regierungsvertretern ihres Landes… [getroffen] (Ausgehend von syntaktischer Korrektheit die Lösung, die am nächsten liegt.)

Neben Verben stellen auch Anhäufungen von Adjektiven vor einem Substantiv eine Schwierigkeit beim Simultandolmetschen aus dem Deutschen z.B. ins Französische dar, weil die französische Syntax meist erfordert, dass das Substantiv vor dem Adjektiv bzw. den Adjektiven steht. In diesem Fall gilt es, das Substantiv zu antizipieren oder ein neutrales Substantiv zu wählen, das anschließend präzisiert werden kann.

Bei einer Fehlantizipation muss der Dolmetscher selbst entscheiden, ob er der Fehler durch Korrektur oder diverse Notstrategien beheben will. Das hängt vor allem von der verfügbaren Kapazität ab und wie gravierend der Fehler war. Eine Korrektur erhöht den kognitiven Aufwand erheblich, was Folgefehler wahrscheinlicher macht.

Inferenzieren

Durch logische Schlussfolgerung und Ergänzung aus dem eigenen Weltwissen ergänzt der Übersetzer ein sogenanntes „missing link“. Solche „missing links“ entstehen durch eine zu schnelle Redegeschwindigkeit, zu hohe kognitive Belastung oder technische Störungen. Beispiel: Heute Nacht fiel in den Mittelgebirgen [der erste Neuschnee] so dass nun alles weiß ist.

Während der Darbietung des Ausgangstextes leitet der Dolmetscher aus dem jeweils Gehörten weitere Erwartungen ab, bildet Hypothesen, die er unverzüglich umsetzt. Er behandelt also ein unvollständiges Äußerungssegment quasi als vollständig, d. h. er inferenziert. Dies bezieht sieh sowohl auf den Inhalt (Der Redner hat einleitend gesagt, er will über das Pro und Kontra der zur Debatte Gehenden Maßnahme sprechen. Bisher hat er nur das Positive genannt; wahrscheinlich kommt jetzt das Negative.) als auch auf die sprachliche Form (Der Redner hat .nicht nur' gebraucht - es muss also eine Ergänzung kommen!).

Hat der Dolmetscher ein Wort nicht verstanden oder nicht vollständig gehört, schlussfolgert er die Bedeutung des fehlenden Wortes oder Textsegments, ergänzt es und dolmetscht gemäß den aufgestellten Hypothesen. Das Inferenzziehen verläuft dabei als top-down verlaufende Verstehensstrategie, bei der der Dolmetscher sich unter Berücksichtigung seines Allgemeinwissens und seiner Erfahrung auf den Kontext, die Logik und die Redundanz der Rede stützt. Redundanzen und Wiederholungen erhöhen dabei die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Dolmetscher richtig auf die nicht geäußerten oder nicht verstandenen Elemente schließt. Unter Umständen kann das Inferenzziehen aber auch als bottom-up verlaufende Verstehensstrategie erfolgen, bei welcher der Dolmetscher sich auf das im Langzeitgedächtnis gespeicherte Wissen über Syntax und Semantik der Ausgangssprache stützt.

Das Inferenzieren, auch Inferenzziehen genannt, dient beim Dolmetschen vordergründig als verstehensstützende Strategie zum Lösen von Schwierigkeiten im Verstehensprozess, die z.B. aufgrund eines schnellen AT-Vortrags, Überforderung der Hörkapazität, Ablenkungen, technischen Störungen etc. auftreten

Segmentierung

Der Duden versteht unter Segmentierung (oder auch chunking) soviel wie „zerlegen“ oder „gliedern“. Die Segmentierung erleichtert das Verstehen, indem lange und komplexe Einheiten schrittweise verarbeitet werden. Das erleichtert auch die Zieltextproduktion. Die Verdolmetschung wird so strukturierter und klarer.

Segmentierung entlastet das Kurzzeitgedächtnis, da bereits verarbeitete Kurzsegmente aus dem Gedächtnis gelöscht werden können und Platz geschaffen wird für neue Informationen. Diese Strategie hilft vor allem bei komplexer Syntax der Ausgangssprache (lange Sätze, Schachtelsätze etc.) oder bei unterschiedlichen syntaktischen Strukturen zwischen den zu dolmetschenden Sprachen. Zeichen für gute Segmentierbarkeit sind Wörter wie „oder“, „deshalb“ „und“, usw. im Verlauf der Rede.

Man unterscheidet drei Arten der Segmentierung:

  • identity: Gleiche Segmentierung wie im Ausgangstext beibehalten. Greift, je langsamer die Vortragsgeschwindigkeit ist.
  • fission: Der Dolmetscher verarbeitet Einheiten die er noch nicht vollständig gehört hat. Greift, wenn die Sätze syntaktisch komplex sind oder um Schachtelsätze zu verarbeiten.
  • fusion: Der Übersetzer speichert zwei oder mehr Einheiten, um sie später zusammen zu verarbeiten.

Beispiel: Ich freue mich sehr, dass ich heute Herrn Paul Müller, Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbundes, hier begrüßen darf und seinen britischen Amtskollegen John Smith, die beide hier heute anwesend sind, um über die aktuellen internationalen Entwicklungen mit uns zu sprechen ebenso wie den französischen Vertreter Herrn Luc Guillaume, der auch in der Botschaft in Berlin tätig ist.

Ich begrüße Herrn Paul Müller. Er ist Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Er arbeitet mit seinem britischen Kollegen Herrn John Smith zusammen. Auch ihn möchte ich begrüßen. Gemeinsam sprechen wir heute über die aktuellen internationalen Entwicklungen. Ebenso begrüße ich den französischen Vertreter Herrn Luc Guillaume. Er ist auch in der Botschaft in Berlin tätig.

Ziel: Die Verdolmetschung kohärenter und verständlicher machen für den Zuhörer (selten erreichbar durch identity-Segmentierung).

Transformieren

Hier arbeitet der Dolmetscher mit „Umbauoperationen“, d.h. bewusster syntaktischer und lexikalischer Umstellung. Das entlastet das Gedächtnis und ermöglichet eine offene Satzplanung. Das ist durchaus legitim, da beim Dolmetschen der Sinn und nicht die Wörter wiedergegeben werden müssen.

Diese Strategie greift vor Allem bei Namen, Zahlen und Aufzählungen. Namen und Zahlen werden oft direkt aufgegriffen, Aufzählungen umgekehrt. Das reduziert die sogenannte Décalage (= zeitlicher Abstand zum Redner).

Hier geht es nicht um Einzelstrategien, sondern eher um eine Strategiegruppe:

A. Reformulieren, z.B. Zerlegen langer und komplizierter Sätze in kürzere und einfachere Sinneinheiten

  • Aktivsätze in Passivkonstruktionen umwandeln und umgekehrt
  • Gesagtes umdrehen (z.B. The water is too shallow => The water is not deep enough)
  • Die Verwendung von „Füllverben“, eine „offene Satzplanung“ (z.B. „in Bezug auf...“, „ist Folgendes zu sagen“, „Es gibt ...“, „Worum geht es hier?“)

B. Nominalisieren

Ziel ist, das Gesagte zu verkürzen und zu vereinfachen

Beispiel: Die Unterzeichnung des Vertrags => Die Vertragsunterzeichnung

Transcodieren

Hier wird bewusst auf syntaktische Veränderungen verzichtet; es wird möglichst linear und wörtlich gedolmetscht. Diese Strategie eignet sich vor allem zum Übertragen von Zahlen und Namen.

Auslassen

Diese Strategie greift vor allem bei hoher Informationsdichte, schnellem Vortragstempo und komplexer Struktur der Rede, wenn alle anderen Strategien nicht mehr greifen.

Ausgelassen werden dann Redundanzen und anderes schmückendes rhetorisches Beiwerk. Das soll eine übermäßige Belastung des Dolmetschers verhindern. Generell gilt bei einem schnellen Vortragstempo: „je schneller der Redner wird, um so langsamer werde ich“. Das Wichtigste wird so knapp wie möglich formuliert, damit sich der Übersetzer auf die Input-Analyse konzentrieren kann. Im Extremfall können hier auch weniger relevante Informationen wegfallen.

Notstrategien

Notstrategien greifen, wenn die Kapazitätsgrenze des Dolmetschers erreicht ist. Man unterscheidet vor allem:

  • Syntaktische Simplifizierung (Sätze so einfach und kurz wie mgl. bilden)
  • Semantische Kompression(Das Wesentliche mit wenigen Worten wiedergeben)

Falls die Schwierigkeiten auf Wissenslücken zurückzuführen sind, greifen meist folgende Strategien:

  • Generalisierung - Verallgemeinerung: Beispiele: otorhinolaryngologist => Spezialist, statt „HNO“ – Hals-Nasen-Ohrenarzt)
  • Freies Paraphrasieren –Wiederholen von etwas bereits Gesagtem- der letzte Ausweg, um eine Sprechpause zu vermeiden!!!
  • Reparaturstrategien Wenn dem Dolmetscher bewusst ein Fehler unterläuft, z.B. eine falsche Kollokation, ein Versprecher (Fehler beim Sprechen; Lapsus Linguae), ein inhaltlicher Fehler etc. sollte er nach dem Monitoring sich korrigieren. Es kann aber auch sein, dass dafür keine Kapazitäten mehr frei sind. Dann sollte sich die Korrektur auf gravierende Verstöße beschränken, um Folgefehler zu vermeiden.

Generell gilt: Notstrategien sind kein Allheilmittel! Bei einer dauerhaften Überbelastung sollte man sich daher nicht scheuen, an den Kabinenkollegen abzugeben, um die Qualität und Richtigkeit der Verdolmetschung für den Zuhörer zu gewährleisten!

Was die Sprachkompression betrifft, so wurde herausgefunden, dass nicht alle Wissenschaftler dieselbe Meinung über den „Status“ der Sprachkompression vertreten. Dabei geht es um zwei verschiedene Hauptpositionen: Sprachkompression als eine Notstrategie, die nur in Problemsituationen benutzt wird (vgl. Kalina 1998, Kucharska 2009) und Sprachkompression als eine notwendige Bedingung einer erfolgreichen Leistung (Chernov 1969, 1980, 2009, Viaggio 1989). Es gibt aber auch Ansichten über die Sprachkompression, die in der Mitte dieser extremen Standpunkte stehen, z. B. die von Werbitskaja, Beljaeva und Bystritskaja (2008): Sie denken, dass man die Sprachkompression zur Prävention der Notsituationen verwenden muss.

Die Sprachkompression gehört zu den Dolmetschstrategien, die beim Simultandolmetschen eingesetzt werden können, und bedeutet die Auslassung oder die verkürzte Wiedergabe einzelner Satzteile. Allerdings gibt es in der wissenschaftlichen Literatur eine Diskussion darüber, wie und unter welchen Bedingungen sie verwendet werden kann. Dazu gibt es drei Hauptmeinungen: Die Sprachkompression ist eine Notstrategie, die nur dann eingesetzt werden kann, wenn die Dolmetscher große Schwierigkeiten beim Arbeiten haben. Diese Schwierigkeiten können unterschiedlicher Natur sein: Es kann um die starke Verstehens- oder Speicherungsbelastung oder um die hohe Informationsdichte der Rede gehen, sie können aber auch mit dem hohen Sprechtempo der Redner verbunden sein. Eine andere Auffassung der Sprachkompression besteht darin, dass die Verwendung dieser Strategie das Simultandolmetschen überhaupt erst möglich macht. Nach dieser Ansicht ist die Sprachkompression eine unvermeidliche Tätigkeit der Dolmetscher und basiert auf ihrer Fähigkeit, die wichtigsten Gedanken aus der Rede herauszufiltern und die redundante Information auszulassen. Wenn die Dolmetscher dies nicht können, so werden sie immer zu stark zurückbleiben, was zu kommunikativen Verlusten führen wird. Die dritte Auffassung der Sprachkompression besteht darin, dass man diese Strategie zur Prävention der Notstrategien benutzen kann.

Jetzt kommen wir zum praktischen Teil und ich möchte Ihnen ein paar Beispiele vorschlagen, um die Strategien zu bestimmen:

1. Ein Beispiel aus einer praktischen Übung mit chinesischen Teilnehmern eines Dolmetschkurses:

In einer Rede auf einer Veranstaltung zur Vorstellung eines „Berichts zur Lage der Ausländer in Deutschland" gab einer der Verfasser zunächst einen historischen Überblick über ausländerfeindliche Tendenzen in der deutschen Vergangenheit vom Mittelalter bis 1945. Dann sagte er: „Natürlich gibt es - wie wir alle wissen - auch bei uns noch Kräfte, die offen oder verdeckt fremdenfeindlich denken und handeln." Der Dolmetscher sprach - *antizipierend - bereits nach „Natürlich gibt es" den chinesischen (hier rückübersetzten) Zieltext „Heute in der Bundesrepublik gibt es immer noch Ausländerfeindlichkeit, offene oder nicht offene.

Sein Kommentar

Zur Begründung führte er bei der Auswertung der Tonbandaufnahme ein von ihm erkanntes rhetorisches Muster, eine grammatische Tatsache und sein Kontextwissen an: Bei „natürlich“ habe ich gedacht, jetzt kommt er zur Gegenwart, es klang so entschuldigend. Und er hat .gibt' gesagt, also das Präsens verwendet, da war es erst recht klar. Dass „Ausländerfeindlichkeit“ oder so was Ähnliches kommen musste, war auch klar." +

2. Bleiben wir bei dem o. g. Beispiel. Der Redner fuhr fort: „Sie neigen dazu, alles was in Deutschland nicht in Ordnung ist - ob hohe Arbeitslosigkeit oder die international nur mittelmäßigen Leistungen unserer Schüler oder was auch immer - pauschal ,den Ausländern' in die Schuhe zu schieben." jmdm. die Schuld an etw. zuschieben

Der chinesische Dolmetscher fuhr nun elegant und effektiv fort, indem er (statt „Sie') sagte „Die ausländerfeindlichen Kräfte". Monitoring + Paraphrasieren

3. In dem bereits zitierten Beispiel gab der Dolmetscher den eingeschobenen Satz „ob hohe Arbeitslosigkeit oder die international nur mittelmäßigen Leistungen unserer Schüler oder was auch immer" mit (rückübersetzt), z. B. „hohe Arbeitslosigkeit usw." wieder.

Dies begründete er damit dass er in Zeitnot gewesen und ihm auch noch beim Monitoring komprimierend das Fortlassen gerechtfertigt erschienen sei.

4. Ein Beispiel für eine Paraph---------, diesmal aus einer Übung mit deutschen Kursteilnehmern, die in die Fremdsprache Chinesisch dolmetschten. Die Rednerin schloss ihre Ausführungen zu Fragen der Dolmetscherausbildung folgendermaßen: „Ich glaube, kurz vor Weihnachten sind wir alle besonders fromm geworden. Auch ich mochte mich am Schluss auf ein christliches Zitat beziehen, nämlich auf Martin Luther, der gesagt hat: „Ach, es ist das Dolmetschen ja nicht ´jedermanns Kunst… Es gehört dazu ein rechtes, frommes, treues, fleißiges, gottesfürchtiges, christliches, gelehrtes, erfahrenes, geübtes Herz“. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit“.

Die Dolmetscherin sagte:„Ich glaube, kurz vor Weihnachten … (merkliche Pause) ist es angemessen, die Worte einer christlichen Persönlichkeit, des deutschen Reformators Luther, zu zitieren: Nicht jeder kann übersetzen, sondern man braucht dazu eine gründliche Ausbildung, Erfahrung und Übung. Vielen Dank“. Ob es sich bei diesem Beispiel um eine geglückte Paraphrase handelt oder nicht, steht hier nicht zur Debatte. Kompression + Paraphrasieren

5. Wir illustrieren noch eine Strategie - die Umstrukturierung wieder mit einem Beispiel aus der Unterrichtspraxis. Ein Redner sagte: „Zu der in letzter Zeil von vielen europäischen Staaten - darunter die baltischen Staaten. Finnland. RuЯland, Irland und auch Deutschland - erhobenen Forderung nach Einbeziehung auch solcher Faktoren ist zu bemerken dass...

Der chinesische Dolmetscher baute aus der ersten identifizierbaren sinntragenden Einheit einen syntaktisch „offenen" Satz - was im Chinesischen besonders leicht möglich ist - und dolmetschte: ..In letzter Zeit gibt es viele europäische Staaten, z B. die baltischen Staaten. Russland, Deutschland und andere: Dadurch bedingt, musste er weiter umstrukturieren: die fordern, daЯ auch solche Faktoren berücksichtigt werden. Wir meinen, ..." Transformieren + Reformulieren.

Jetzt möchte ich Ihnen einige Videoaufnahmen vorschlagen:

10-15 Minuten!!!

Das war eben das Thema „Missverständliches“.

Ein westlicher Manager hält in Asien eine Rede, die von einem japanischen Dolmetscher übersetzt wird. Sein Eingangsscherz zieht sich in die Länge, simultan überträgt ihn Dolmetscherin, endet kurz nach dem Manager – und ohne jeden Zeitverzug bricht ein großes Gelächter los. Der Manager bedankt sich am Ende bei der Dolmetscherin und fragt nach ihrer Methode, denn, so der ausländische Gast: “… ich habe den Eindruck, dass man in Asien unseren Humor nicht so richtig versteht, aber Dank Ihrer Übersetzung war das ja zum ersten Mal kein Problem.”

Die Dolmetscherin läuft rot an und antwortet mit Höflichkeiten, da drängt der Veranstalter zum Aufbruch. Als sie weit genug weg sind, verplappert sich der Praktikant: “Die Dolmetscherin hat gesagt: Hier ist jetzt der Redeteil, den man im Ausland komisch findet, und es wäre schön, wenn Sie bei ‘jetzt’ alle lachen würden … Jetzt!”

Zu guter Letzt möchte ich unterstreichen, dass diese Situation am Besten das Zitat des ehemaligen Außenminister Genscher auf den Punkt bringt: “In einer Fremdsprache sagt man das, was man sagen kann, und nicht das, was man sagen will.” Ihnen wünsche ich immer das sagen, was Sie wollen.

Wir haben heute den Begriff „Strategie“ definiert haben und alle wichtigsten Strategien beim Simultandolmetschen besprochen haben. Nächstes Mal werden wir sowohl heutige als auch neue Aufnahmen analysieren, die Fehler beim Simultandolmetschen. Sie werden auch kurze Ausschnitte simultan dolmetschen. Das Thema ist ihnen schon bekannt. Feste in deutschsprachigen Ländern. Als Hausaufgabe bekommen Sie einen wissenschaftlichen Artikel über die Anwendung der Strategien beim Simultandolmetschen.

Wenn Sie Fragen haben, dann stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und bis Montag

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