Schulzenhofer Kramkalender

Veilchen

Es dämmerte, und die Mutter stieg in den Keller, um noch etwas fürs Abendbrot heraufzuholen. In den Wiesen bellte ein Rehbock, und mein Sohn Matthes, der gewaschen am Tisch saß, sprang auf und rannte hinaus, um den Rehbock zu sehen.

Es wurde dunkel; er kam nicht heim. Die Mutter rief ihn und ging ihn suchen; sie fand ihn nicht und kam murrend zurück.

Der Vollmond ging auf, und Matthes kam heim; er hatte die ersten Veilchen gepflückt. Sie dufteten süß aus der schmutzigen Faust.

Dummköpfe

Unerbittlich war Brecht gegen notorische Dummköpfe. Die übliche Redensart: „Mag sein, er macht Fehler, aber man muss den guten Willen anerkennen...", brachte ihn auf. Die mit gutem Willen Schlechtes machten, mochte er nicht. Für ihn war das Resultat einer Arbeit maßgebend, nicht der gute Wille.

Als man sich bei einer Besprechung über die Unzulänglichkeit einiger Regisseure und Intendanten in der Republik beklagte, sagte er: „Weg mit ihnen!"

„Man kann sie doch nicht auf die Straße setzen", gab ein Versöhnler zu bedenken.

„Man kann", sagte Brecht. „Unsere Straße ist gutt."

Gänseblumen

Manchmal wünsch ich mir die Kraft einer Gänseblume. Im Garten raschelt das Apfelbaumlaub; in den Nächten hat es schon Fröste gegeben. Wiesen- und Wegblumen sind erfroren. Im dürren Fallaub blühn Gänseblumen, winzige Sonnen mit Blütenblatt-Strahlen.

Der Schnee fällt, und er bleibt lange liegen. Die Ponys scharren im Apfelgarten: Im erfrorenen Gras blühn die Gänseblumen.

Der Frühling, es taut, und der Schnee verschmilzt. Am feuchten Wegrand blühn Gänseblumen. Schneeglocken sprießen an warmer Hauswand. Sie mühn sich, weiße Blüten zu treiben. Die Gänseblumen blühn schon lang. Sie blühten im Herbst, und sie blühten im Winter, sie blühten beim Frost und unter dem Schnee.

Manchmal wünsch ich mir die Kraft einer Gänseblume.

Gespenstergeschichte

Die Teiche waren die Augen der Erde; Erlgestrüpp und Weidengesträuch ihre Wimpern. Wir lagen am Teichrand und schauten dem Spiel einer Wanzenart zu, die wir Wasserläufer nannten. Ein leiswarmer Wind lullte, und ein Mann kam des Weges. Er hing in einem schwarzen Rock mit halblangen Schößen, und auf seinem Kopfe wackelte ein halbsteifer Glockenhut. Er hatte sich mit einem Papierbindfaden eine Handharmonika um den Hals gehängt und führte eine Kuh. Das Tier ging nach dem lichtlosen Stallwinter stipperig über die feuchte Frühlingserde.

Im Schwarzrock und unter dem Glockenhut steckte der Lehrer, der zugleich Kantor der kleinen Dorfkirche war. Wenn er sonntags die Orgel spielte, lagen wir auf dem alten Kirchhof zwischen den Gräbern und ließen das Klanggewitter über uns hinbrausen, bis der Kirchendiener kam und piepste: „Geht in die Kirche, Heidenpack! Stört die Ruhe der Toten nicht!" Unsere Väter waren Preußen verschiedener Schattierungen und führten in Frankreich Krieg. Einmal ging ich mit der Mutter zur Danksagung für einen gefallenen Krieger in die Kirche. Der Krieger war mein Onkel gewesen. Da hörte ich die Orgel zum ersten Male aus der Nähe, und mir war's, als sollte ich in Musik ertrinken, und ich steckte mir die Zeigefinger in die Ohrlöcher. Rings auf den Bänken saßen Frauen, stumm und schwarz, und manche weinten, auch meine Mutter weinte. Sie dachte an den toten Onkel, und ich dachte an unsere gescheckte Katze. Ich hatte sie fast erhängt, weil ich sie wie einen Hund an der Leine zu führen versuchte, und die Mutter hatte mich einen Tierquäler gescholten. Das fiel mir beim Orgelklang ein, und da weinte auch ich. Der Gottesdienst war langweilig. Der Pfarrer redete, und ich verstand nichts. Manchmal wurde auch der Orgel der Gottesdienst langweilig, und sie fegte mit einem Musikstoß zwischen die prassel-dürren Worte des Pastors, und die Frauen jauchzten auf, aber schon erhob sich die weggeschwemmte Knarrstimme des Pfarrers wieder in einer Ecke. Die Weiber schwiegen und schauten wie bestrafte Kinder auf die Kirchenfliesen.

Nein, in die Kirche wollte ich nicht wieder. Dort musste man die Musik mit Stillsitzen bezahlen. Es war besser, draußen in den Gräberreihen zu liegen und zwischen zwei Orgelpausen nach Schmetterlingen zu haschen, die den armen Toten den Blumenduft weg tranken.

Die Orgel, jener Schrank voll brausender Töne, beschäftigte uns fort und fort, mich und meinen Freund Juri Sturuk. Ein Leiermann rastete im Straßengraben und schlief ein. Wir schoben ihm die Drehorgel fort und fuhren mit ihr heim auf den Hof. Als wir uns dranmachten, das Geheimnis der fahrbaren Orgel zu ergründen, kam der Leiermann schimpfend auf Sturuks Hof und musste mit Quarkbroten abgefunden werden.

Juri war zwei Jahre älter als ich und ging schon in die Schule. Er schlich sich in die Kirche, als der Kirchendiener zum Abend läutete, ließ sich einschließen und fingerte die halbe Nacht über die Orgeltasten. Die Orgel blieb stumm, und ihre Metallflöten zwinkerten im Mondlicht.

Die Frauen suchten Juri. Sie. fanden ihn um drei Uhr in der Frühe. Er hatte das Seil der Kirchenglocken gezogen, und die Glocken, die noch nicht zu Kanonen umgegossen waren, fuhren scheppernd und dengelnd aufeinander los.

Das Geheimnis des Orgelspiels lag beim Kantor. Sicher musste man erst Lehrer lernen und schwarz gekleidet einhergehen, wenn einem die Orgel gehorchen sollte.

Der Lehrer bog mit seiner Kuh in ein Tälchen ein. und wir
schlichen ihm nach. Auf der Organistenwiese koppelte er die Kuh
los und gab ihr einen Klaps. Die Kuh ging auf die Pfarrwiese. Der-
Lehrer hatte nichts dagegen; auf diese Weise wurde das Organisten-
gras geschont. .

Wir lagen hinter alten Rainfarnstengeln. Der Lehrer trappelte am Rain hin und her, und er zog seinen Gehrock aus. Da stand er: Hosenträger über gestreiftem Barchenthemd, schraubte seinen steifen Kragen ab und ließ sich ächzend auf den Rain nieder. Er stocherte mit einem Grashalm in seinen schwarzen Zähnen und sah zu den Feldlerchen auf. Eine Weile saß er so, aber dann nahm er die Handorgel, öffnete eine Klappe an ihr und zog ein Büchlein heraus. Er blätterte mit seinen Gichtfingern, lugte nach allen Seiten, erhob sich, holte Atem und begann laut zu deklamieren: „Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst..."

Wir waren enttäuscht: Es gab keine Handorgelmusik, und wir krochen wie Würmer in einer Ackerfurche davon, und die Worte des Lehrers hallten über Felder und Frühlingswiesen: „Ein Gespenst geht um ...das Gespenst...“

Diese Gespenstergeschichte habe ich von meinem ersten Lehrer nie in der Schule gehört. Erst viel später stieß ich auf jenes Büchlein, in dem sie stand.

Der Kommissar

Was doch Reporter verschiedener westlicher Zeitungen nicht alles schreiben! Nach der Premiere meiner Bauern-Komödie „Katzgraben", die von Bertolt Brecht aufgeführt wurde, berichtete die westdeutsche Zeitschrift „Der Spiegel": „Einen Strittmatter gibt es gar nicht, sein Name ist ein Pseudonym von Brecht."

Vor einer Schriftstellerkonferenz in Amsterdam besuchten wir mit Brecht dort eine Buchhandlung. Der Buchhändler erkannte Brecht, mich sah er aufmerksam an. Er verschwand, kam mit einer Zeitung zurück und bat Brecht, einen Artikel zu lesen. In dem Artikel stand: „Die Regierung der DDR hat dem Dichter Brecht die Ausreise nach Holland erlaubt. Sie hat ihm aber einen Kommissar beigegeben, der wie ein Chauffeur aussieht." Der Buchhändler glaubte also, dass ich der getarnte1 Kommissar war, denn ich trug eine Lederjacke.

Brecht lachte, als er den Artikel gelesen hatte, und sagte: „Diesmal zeigen wir es ihnen!"

Die Konferenz begann. Brecht saß im Präsidium, und man war stolz darauf. Er wurde gefeiert. Doch jedesmal, wenn man einen Beschluss fassen musste, sagte Brecht: „Wartet einmal! Ich muss da erst meinen Kommissar befragen gehen!" Er ging durch den Saal, wie man es auf dem Theater tut, kam zu mir und fragte laut und sehr ernst: „Darf ich?"

1 getarnt sein — быть замаскированным

CHRISTINE NÖSTLINGER

(geb. 1936)

Christine Nöstlinger ist die bekannteste und erfolgreichste österreichische und überhaupt deutschsprachige Kinder- und Jugendbuchautorin. Nach der Matura nahm Chr. Nöstlinger das Studium der Gebrauchsgrafik an der Akademie für angewandte Künste in Wien. Seit 1970 arbeitet sie als freie Autorin für Verlage, Tageszeitungen und Magazine, Rundfunk, Fernsehen, Film und Bühne. Nöstlinger lebt in Wien und im Waldviertel im Niederösterreich. Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, verfilmt und mit vielen Auszeichnungen bedacht. 1972 erhielt sie den Friedrich-Bödecker-Preis, 1973 - den Deutschen Jugendbuchpreis, 1988 – den Österreichischen Staatspreis. 1984 erhielt sie die angesehene Hans-Christian-Andersen-Medaille für ihr Gesamtwerk. Ihr Werk ist durch Phantasie, Witz und eine unverwechselbare Sprache gekennzeichnet. Ihre Bücher sprechen sowohl Kinder, als auch Erwachsene an. Christine Nöstlinger kämpft schreibend für die Jugend, macht ihnen Mut und gibt ihnen Hoffnung. Ihr er­stes Buch „Die feuerrote Friederike“ erschien 1970, wo sie auch Illustrationen schuf. Ihm folgten die weiteren Meisterwerke des phantastischen Genres: „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“ (1972), „Konrad oder Das Kind aus der Konservenbüchse“ (1975), „Hugo, das Kind in den besten Jahren“ (1983, „TV-Karl“ (1991) u.a. In dem autobiographischen Roman „Maikäfer, flieg“ (1973) schil­dert Chr. Nöstlinger die Befreiung Wiens durch die Sowjet­truppen und die Nachkriegszeit aus der Sicht eines achtjährigen Mädchens; ebenso kritisch behandelt sie eigene Kindheitserinnerungen an die erste Nachkriegszeit in „Zwei Wochen im Mai“ (1981). Die Tendenz ist die einer humanen und pazifistischen Weltsicht. Unter den realistisch-psychologischen Erzählungen von Christine Nöstlinger sind die besten „Der Spatz in der Hand“ (1974) und „Ilse Janda, 14 oder Die Ilse ist weg“ (1974). Ihre Mädchengestalten kämpfen mit Problemen, die Mütter, Familie und eingeschränkte Lebensmöglichkeiten verursachen. Mit außergewöhnlicher Einfühlsamkeit hat die Autorin ein dramati­sches Schicksal der 15jährigen Ilse entworfen, das durch die Scheidung ihrer Eltern und eine neue Heirat der Mutter erschwert war. Auch in anderen Jugendbüchern behandelt sie kritisch Fami­lienprobleme und entwirft liebevoll Gegenbilder zu den Zwängen kindlicher Lebenswirklichkeit: „Die unteren sieben Achtel des Eisbergs“ (1978), „Pfui Spinne“ (1980). Daneben schildert sie die Familie humorvoll, wie in der Trilogie: „Gretchen“ (1981), „Gretchen hat Hänschen-Kummer“ (1983), „Gretchen, mein Mädchen“ (1988). Viele ihrer Bücher lassen Wiener Lokalkolorit spüren, z.B. „Am Montag ist alles ganz anders“ (1984). Gedichtbände wie „Iba de gaunz oama Kinda“ sind in Wiener Mundart geschrieben. Weitere Werke von Nöstlinger sind: „Die Kinder aus dem Kinderkeller“ (1971), „Achtung! Vranek sieht ganz harmlos aus“ (1974), „Lollipop“ (1977), „Rosa Riedl, Schutzgespenst“ (1979), „Rosalinde hat Gedanken im Kopf“ (1981), „Der geheime Grossvater“ (1986), „Der Zwerg im Kopf“ (1989), „Der gefrorene Prinz“ (1990), „Salut für Mama“, „Sowieso und überhaupt“ (1992) u.a.

Die besten Werke von Christine Nöstlinger für die Jugendlichen sind: „Ilse Janda, 14“ (1973), „Konrad oder Das Kind aus der Kon­servenbüchse“ (1975), „Stundenplan“ (1975), „Olfi Obermeier und der Ödipus“ (1984), „Man nennt mich Ameisenbär“ (1986) u.a. Ihre erstaunliche schriftstellerische Begabung, ihre lockere und intelligente Schreibweise, ihre Fähigkeit zu Phantasieschöpfungen und treffenden Milieuschilderungen benutzt Nöstlinger, um ihren Texten eine sozialkritische Tendenz mitzugeben.

Wir bringen unten einige Auszüge aus dem Jugendbuch „Die Ilse ist weg“. Die Geschichte wird aus der Sicht der 12jährigen Erika über ihre 14jährige Schwester Ilse erzählt. Die Autorin zeigt, welche Probleme für Kinder aus der Trennung der Eltern und aus ihrer neuen Heirat entstehen können.

Die Ilse ist weg

(Auszug)

Vielleicht war es der Wolfgang, der ihr das Meerschweinchen geschenkt hat?

Das war vor ungefähr zwei Jahren. Im Winter. Die Ilse kam vom Nachmittagsturnen heim. Sie hatte einen Karton in den Händen. Die Mama war in der Diele und telefonierte. Neugie­rig schaute sie dabei auf die Ilse und den Karton.

Die Ilse stand bei der Garderobe, presste den Karton an den Bauch und zog den Mantel nicht aus.

Die Mama hörte zu telefonieren auf und fragte: „Was hast du denn da?“

Die Ilse gab keine Antwort. Die Mama ging zur Ilse und schaute in den Karton. „Bist du verrückt?“ rief sie, „woher hast du denn das Vieh1?“

Die Ilse starrte die Mama an und gab keine Antwort. Dann kam der Kurt aus dem Wohnzimmer, und der Oliver und die Tatjana kamen aus dem Kinderzimmer. Die Tatjana war da­mals noch sehr klein. Sie wollte in den Karton hineinschauen. Sie zog am Mantel der Ilse und brüllte: „Schauen, schauen, schauen!“

Die Ilse ließ sie nicht schauen.

Ich wollte das Meerschweinchen aus dem Karton holen und streicheln.

Die Ilse machte einen kleinen Schritt weg von mir. Ich merkte, dass sie auch mich an das Meerschweinchen nicht heranlassen wollte.

„Trag das Vieh sofort zurück“, schrie die Mama.

„Wir könnten es doch probeweise ein paar Tage behalten“, sagte der Kurt leise zur Mama. Der Oliver und die Tatjana hatten es gehört.

„Ja, behalten“, schrien sie. „Schweindl2 behalten.“

Die Mama schaute den Kurt zuerst böse an, dann seufzte sie und sagte: „Na bitte, wenn du meinst“ und ging in die Küche.

Der Kurt rannte hinter ihr her. Es sei doch nur ein Vorschlag gewesen, sagte er. Man könnte das Vieh doch noch immer zurücktragen! Die Mama schimpfte: „Probeweise! So ein Blöd­sinn! Wenn das Vieh im Haus ist, geben sie es doch nicht mehr her!“ Und dann sagte sie: „Und wer wird den Dreck putzen? Und das Futter holen? Ich!“

Damit hatte die Mama nicht recht. Die Ilse kümmerte sich um das Meerschweinchen. Jeden Tag mistete sie den Stall aus3. Stundenlang hatte sie das Vieh auf dem Schoß und streichelte es.

Ich war die einzige außer ihr, die das Meerschweinchen be­rühren durfte. Dem Oliver und der Tatjana hat es die Ilse nicht erlaubt. Wenn die Ilse weggegangen ist, hat sie den Meer­schweinchenstall auf unseren Schrank hinauf gestellt. Und wenn sie daheim war und der Oliver und die Tatjana zu uns ins Zimmer kamen und mit dem Meerschweinchen spielen woll­ten, hat die Ilse wütend gesagt: „Dalli4, dalli, verschwindet!“

Aber ich bin mir ganz sicher, dass die Mama am Vormittag, wenn wir in der Schule waren, das Meerschweinchen vom Schrank heruntergeholt hat. Im Zimmer von der Tatjana und vom Oliver fand ich ein paarmal Sägemehl auf dem Boden und einmal ein angenagtes Karottenstück.

Das Meerschweinchen war schon über ein Jahr im Haus, da geschah es: Die Ilse war im Bad. Ich trocknete in der Küche Geschirr. Die Tür zu unserem Zimmer war offen. Der Meerschweinchenstall stand auf dem Schreibtisch von der Ilse. Die Tatjana lief in unser Zimmer. Sie kletterte auf den Sessel und von dem Sessel auf den Tisch. Sie nahm das Meer­schweinchen aus dem Stall. Wahrscheinlich hat sie zu fest zu­gepackt. Oder an der falschen Stelle. Jedenfalls hat sich das Meerschweinchen bedroht gefühlt. Zuerst hat es laut ge­quietscht. Und dann hat die Tatjana gebrüllt. Wie am Spieß! Das Meerschweinchen hatte sie in den Finger gebissen. Der Finger blutete.

Die Ilse hörte das Meerschweinchenquietschen und kam aus dem Badezimmer gelaufen. Mit viel Schaum auf dem Kopf. Die Mama hörte das Gebrüll der Tatjana und kam aus dem Wohnzimmer gelaufen.

Und ich aus der Küche hinterher!

Die Tatjana stand auf dem Tisch und hielt den blutenden Finger hoch. Das Meerschweinchen lag auf dem Boden und rührte sich nicht. Aus seiner Nase lief Blut. Viel mehr Blut als aus Tatjanas Finger. Ilse hob das Meerschweinchen auf. Es war tot. Es musste mit dem Kopf gegen die Türklinke geflogen sein, als Tatjana es vor Schreck weggeschleudert hatte.

Ilse ging mit dem toten Meerschweinchen zu ihrem Bett. Sie legte es auf die Bettdecke.

Die Mama hob Tatjana vom Tisch, setzte sich mit ihr auf den Schreibtischsessel, blies auf den blutenden Finger und murmelte: „Es ist ja nicht schlimm, es tut ja nicht weh, es hört ja gleich auf!“

Die Ilse sprang plötzlich auf die Mama zu. Sie riss die Tatjana von ihrem Schoß und brüllte: „Ich bring dich um!“

Es war fürchterlich! Die Tatjana hat entsetzlich geschrien. An einem Arm von ihr hat die Ilse gezogen, am anderen Arm die Mama.

„Lass das Kind los“, hat die Mama gekeucht. „Nein, ich bring sie um!“ hat die Ilse gefaucht.

Dann hat die Mama auf die Ilse eingeschlagen. Die Ilse hat sich gewehrt. Sie hat getreten. Gegen die Beine der Mama. Der Tatjana ist es gelungen, sich von der Ilse loszureißen. Sie ist aus dem Zimmer gelaufen. Die Mama hat weiter auf die Ilse eingeschlagen. Dabei hat sie gebrüllt: „Du bist ja wahnsinnig geworden! Du hast ja komplett den Verstand verloren.“

Sie hat die Ilse auch an den Haaren gerissen. Zum Schluss hat sie die Ilse auf das Bett gestoßen. Auf das tote Meerschwein­chen drauf. Dann ist sie aus dem Zimmer gegangen. Ihre Hände haben gezittert, und sie hat geschnauft wie eine Herzkranke.

Die Ilse hat eine Stunde auf ihrem Bett gelegen. Mit dem schaumigen Kopf auf dem toten, blutigen Meerschweinchen. Nach einer Stunde ist sie aufgestanden. Sie hat einen Bogen Packpapier aus einer Lade geholt. Sie hat das Meerschwein­chen in das Packpapier gewickelt. Sie hat mir die Rolle in die Hand gedrückt und gesagt: „Trag sie runter in den Mülleimer!“

„Wir könnten es beim Großvater im Garten eingraben“, habe ich vorgeschlagen.

Die Ilse hat den Kopf geschüttelt. So nahm ich die Packpa­pierrolle und trug sie in den Keller hinunter und warf das tote Meerschweinchen in den Abfall.

Am Abend kam dann der Kurt zu uns ins Zimmer. Er fragte, ob er der Ilse ein neues Meerschweinchen kaufen dürfe.

„Kauf deinen eigenen Kindern eines", fauchte ihn die Ilse an. Der Kurt sah recht hilflos aus. Zweimal machte er den Mund auf und klappte ihn dann wieder zu. Er wollte etwas sagen. Doch dann ließ er es bleiben und ging aus dem Zimmer.

Ich fand das ungerecht von der Ilse. Ich sagte: „Der Kurt kann doch nichts dafür!“

„Aber seine Kinder“, sagte die Ilse.

Ich sagte, dass das nicht nur die Kinder vom Kurt, sondern auch die Kinder von der Mama sind, und dass sie unsere Geschwister sind. Die Ilse rief: „Nein! Die sind genausowe­nig meine Geschwister, wie die Kinder vom Papa meine Ge­schwister sind! Oder sind diese zwei Halbaffen vielleicht auch deine Geschwister?“

Ich schüttelte den Kopf. Die Halbaffen, die neuen Kinder vom Papa, kann ich auch nicht leiden. „Na eben", sagte die Ilse.

Ich sagte nichts mehr. Mir tat die Ilse leid. Es ist wohl wirk­lich zuviel verlangt, wenn man den Mörder seines geliebten Meerschweinchens gern haben soll.

Erläuterungen:

das Vieh(umg.) — Tier

das Schweindl (österr.) — Schweinchen

den Stall ausmisten — den Stall reinigen, vom Dreck sauber machen

dalli(umg.)—schnell,rasch
wie am Spieß— sehr laut

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