Kapitel 4 - Menschliche Kontakte


Die sozialen Beziehungen haben sich während der letzten 20 Jahre in der Bundesrepublik sehr verändert. Das trifft besonders für die Angehö­rigen der jüngeren Generation zu.

Viele Tabus sind verschwunden. Junge - und auch ältere - Paare wohnen oft zusammen, oh­ne verheiratet zu sein. Auf dem Gebiet der Se­xualmoral haben sich allgemein tiefgreifende Veränderungen vollzogen. Die „Pille" hat da­zu sicherlich viel beigetragen.

Die sozialen Umgangsformen haben sich im gleichen Zeitraum sehr gelockert. Früher zum Beispiel redeten sich auch Studenten im allge­meinen mit „Sie" an. Gleichzeitig gab es in allen sozialen Bereichen einen Abbau an Auto-

rität. Familien versuchten sich in Experimen­ten mit „antiautoritärer Erziehung". In der Arbeitswelt wurde der hierarchische Aufbau in Frage gestellt, in der Politik die Kompetenz der staatlichen Repräsentanten. Beschlüsse der Exekutive wurden vor Gericht angefochten, Bürgerinitiativen bildeten sich. Sind die Bürger heute allgemein „mündiger" geworden?

Die Gesellschaft ist heute offener und libera­ler. Konservative Kritiker sagen, sie habe sich in eine „permissive" verwandelt.

Bekanntschaften und Freundschaften werden heute sicherlich leichter geschlossen als früher. Sind sie darum weniger dauerhaft?



Martin Walser

Julias neuer Freund

Da fiel ihm ein, daß Julias neuer Freund zu erwarten war. Agnes würde darauf bestehen, diesen Unbekannten am Tisch zu haben. Sie konnte nicht genug kriegen von dem Ge­schwätz dieser Kerle. Alles wollte sie heraus­bringen. Sie selber meinte, die Fragen, mit de­nen sie Julias Freier bearbeitete, seien unauf­fällig! Xaver hatte sich noch jedesmal geniert, wenn er einem solchen Verhör hatte beiwoh­nen müssen. Selbst wenn er diese Spunte nicht mochte, gefragt von Agnes, taten sie ihm leid. Dann war zu erleiden, daß Magdalena sich das alles anhören mußte. Der Neue fuhr mit seiner Maschine gleich bis zur Remise. Julia führte ihn herein. Deesch Mick*, sagte sie. Haar und Bart ein Kräusel und goldblond. Spitze Nase. Entzündete Augen. Auf jeden Fall fielen die Lider durch Röte auf. Sie leuchteten als Haupt­farbe aus dem vielen Blaß und Blond. Er saß von Anfang an sehr aufrecht und aß, als handle es sich um den Wettbewerb: wer kann am un­auffälligsten essen. Der nahm nachher nicht nur keinen Käse in die Hand, um sich ein Stück

abzusäbeln, wie das sein Vorgänger getan hat­te, der sagte bei jedem Angebot: Danke nein. So leise hatte noch keiner gesprochen. Er hob den Blick fast nie über den Tellerrand hinaus. Julia saß noch aufrechter als ihr Mick. Aber bei ihr sah es nicht aus wie Anstand, sondern wie Triumph. Manchmal sah sie auf den hin, wie auf etwas, was ihr gehörte und womit sie zufrie­den sein konnte. Magdalena saß so weit als möglich weg vom Tisch. So weit, daß sie sich zum Essen vorbeugen mußte. Ihr Kinn hing knapp über dem Tischrand. Sie machte den Mund auf und schaufelte sich die Maiskörner, die sie aus einer Dose in eine Essigbrühe ge­leert hatte, mit einem Löffel vom Teller in den Mund. Sie sah aus wie etwas Buckliges, Ver-zwergtes, Böses. Sie tat, als höre und sehe sie nichts. Ihre furchtbare Haltung zeigte, daß sie auf alles, was hier gesehen und gehört werden konnte, nur eine einzige Antwort geben wolle, eben ihr groteskes Wegrücken und Vorbeugen. Als das Essen fertig war, hatte dieser Mick praktisch nichts gegessen. Getrunken hatte er

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' Schwäbische Mundart = das ist Mick.






zwei, drei Schlucke Elisabethen-Quelle. Alko- siter jetzt in der Hand und schnipfle sich so

hol hatte er, ohne Aufwand, abgelehnt. Xaver lange was runter, bis nichts mehr übrig sei. 55

fand das sympathisch. Mein Gott, wie der Vor- Aber der hatte den Tilsiter wieder zurückgelegt

50 ganger, der Herr Abiturient, ein nacktes Stück auf den Käseteller. Xaver sah in dieser Beneh-

Tilsiter auf die nackte Hand gelegt hatte, um mensweise noch den Metzgersohn. So schnip-

sich davon was runterzusäbeln. Man hätte ei- felt man nämlich von der Wurst herunter, wenn

gentlich annehmen müssen, er behalte den Til- man sie nicht bezahlen muß. 60

Aus: Martin Walser, „Seelenarbeit", ©Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1979

HA I. Lesen Sie den Text genau durch, schlagen Sie unbekannte Wörter nach und notieren Sie die Satzkonstruktionen, die Sie nicht verstehen.

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