Traum oder Wirklichkeit

„Da unten liegt Deutschland“, sagte mein Flugnachbar. „Sehen Sie mal, jeder Quadratmeter ist für die Landwirtschaft genutzt. In den weißen Häusern mit den spitzen Giebeln wohnen Arbeiter. Die verdienen bei uns zehnmal soviel wie bei Ihnen. Das ist Wohlstand, mein Lieber! Das ist Fortschritt!“ Da werden Sie Augen machen.“…

„Wenn Sie so lange weg waren“, fuhr er fort, „dann wird das heutige Deutschland für Sie eine Mischung aus Traum und Wirklichkeit sein, an die Sie sich erst gewöhnen müssen. Wir sind heute wieder auf allen Gebieten führend in der Welt. Da hinten können Sie jetzt Frankfurt sehnen, unser großes Finanzzentrum. Eindrucksvoll, was?“…

So geht es vielen Besuchern Deutschlands, die aus fernen Ländern kommen. Wenn sie das einstige Land der Dichter und Denker, der heutigen Technik und des Wirtschaftswunders betreten, dann sieht gleich irgendein biederer Bundesbürger mit wohlwollendem Mitleid auf sie herab, so dass sie von der unwiderstehlichen Versuchung gepackt werden, dem drohenden Minderwertigkeitskomplex entgegenwirken und sich ihrerseits ein bisschen in die Brust zu werfen.

Ich war da keine Ausnahme, denn als ich hoch oben im Frankfurter Hotel aus dem Fenster blickte, da konnte ich es mir nicht verkneifen, den dienstbaren Geist mit gut gespielter Harmlosigkeit zu fragen, was das da unter denn für ein kleiner Kanal sei. „ Aber das ist doch der Main!“ kam die Antwort. So sollte es mir später auch beim legendären Vater Rhein gehen, bei Elbe, Weser und anderen deutschen Flüssen, die gar nicht so überaus eindrucksvoll wirken …

Lassen Sie mich vorgreifen und schon jetzt sagen, was mich in Deutschland am meisten begeistert hat: die Eisenbahn. Da sitzt man also wie im bequemen Orchestersessel am Panoramafenster und lässt genussvoll die Landschaft an sich vorüberziehen. Das ehemalige Geholper ist verschwunden; lautlos gleitet der Zug im 140 – km-Tempo über die nahtlos geschweißten Schienen. Der Speisewagen ist erstklassig, die sanitären Einrichtungen peinlich sauber, die Schaffner von ausgesuchter Höflichkeit. Pünktlichkeit ist Trumpf …

… Die flache Landschaft erscheint mir an der Strecke nach Norden kahl und grau. Wo ist das Grün, das wir auch im Winter haben? Aber der Wohlstand ist überall augenfällig. Sauber asphaltierte Straßen laufen bis zu jedem einsamen Bauerhof. Bei einem steht eine Scheune offen. Werde ich jetzt das erste deutsche Pferd zu sehen bekommen? Mitnichten! Ein VW ist dort untergestellt und der Bauer fährt mit seinem imposanten Traktor über den Acker.

Schulfreund Hans wohnt draußen im Grünen. Die Wiedersehensfreude nach so vielen Jahren ist natürlich groß. Ich lerne seine nette Ehefrau kennen, und dann beginnt das beiderseitige Erzählen. Im Kriege haben beide viel Schweres durchgemacht. Der berufliche Neubeginn war mühsam und langweilig. Jetzt scheinen sie jedoch nicht mehr am Hungertuche zu nagen. Die elegante Eigentumsvilla weist alle heute in Deutschland üblichen Merkmale eines beneidenswerten Lebensstandards auf.

„Ja sicher“, gibt Hans zu, „direkt schlecht geht es uns natürlich nicht. Wir sind normaler deutscher Mittelstand. Wie soll das aber nun weitergehen?! Sein sorgenvolles Gesicht bringt mich zu Lachen. „Ich merke das überall. Die Leute leben wie ein Gott in Frankreich, aber dauernd sieht man warnend erhobene Zeigefinger.“

Hans fragt mich, ob ich denn nicht gehört hätte, dass eine neue „wirtschaftliche Talsohle“ in Aussicht stehe. Persönlich sei er in Bezug auf seine Geschäfte zwar noch ziemlich optimistisch, aber man könne ja nie wissen. „Wir leben auf jeden Fall einfach und auch ein bisschen eintönig. Wir gehen kaum mal aus, ins Theater und so. Dafür sind wir nach der Arbeit immer viel zu müde. So gehen wir abends mit dem Dackel einmal um den Block, lesen eine Zeitschrift, sehen fern und dann geht es früh in die Klappe. Morgens muss ich ja auch wieder ganz früh raus.“ Später merkte ich allerdings, dass er nicht vor neun in seiner Firma zu sehen war.

„Macht Ihr denn keine Ferien?“ fragte ich unschuldsvoll. „Nun, ja“, gesteht Hans, „wir fahren schon manchmal für ein paar Tage weg.“ Als ich in dieser Hinsicht ein bisschen nachbohre, stellt sich heraus, dass Hans mit seiner Frau letztes Jahr zu Ostern, zu Pfingsten, im Sommer und über Neujahr verreist waren, den obligaten Ski-Urlaub nicht mitgerechnet. Der käme ja auch unter das Thema Gesundheitspflege, meinte er. Sie waren mehrfach In Italien; Griechenland und Spanien, aber auch in Tunis, Skandinavien und am Schwarzen Meer. Momentan sei man dabei, Prospekte zu wählen, um sich für Bangkok oder die Bahamas zu entscheiden.

Die wirtschaftlichen Sorgen können also nicht gerade beängstigend sein. Auf anderen Gebieten sind sie allerdings unübersehbar. Die Tochter studiert in München, nachdem sie mehrere Jahre auf einen Studienplatz warten musste. Sie hat jetzt den dritten „festen Freund“, der gottlob bisher nicht in Demonstrationen verwickelt gewesen sei und Rauschgift nur selten zu nehmen scheine. Vermutlich ein ganz ordentlicher Bursche, aber an Hochzeitsglocken sei in absehbarer Zeit dennoch kaum zu denken.

Der Sohn hat eine gute Stelle in Heidelberg. Seine Frau ist auch berufstätig und außerdem in Emanzipationsvereinen aktiv. So muss man wohl noch lange vergeblich auf den sehnlichst erhofften Enkel warten …

Am Sonntag sitzt auf der Fahrt nach Sylt neben mir im Zug das biedere Ehepaar Schulze. Schulzes haben über Bausparkasse eine hübsche Eigentumswohnung am Berliner Tor erworben. Letztes Jahr waren sie auf Mallorca und liebäugeln nunmehr mit einer Reise nach Rumänien.

„Wer weiß, wie lange wir das noch können!,- meint Schulze mit der gleichen Besorgnis wie neulich der selbständige Unternehmer Hans. Trotz seiner Wohlhabenheit scheint er in einen gähnenden Abgrund zu blicken: „Mit den Schiffaufträgen hapert das ja nun bannig. Vielleicht werde ich auf meine alten Tage noch arbeitslos. Und mit den Renten fängt das Theater ja erst richtig an.“ Mit Leidensmiene fährt er fort: “Ich bin seit Jahren eiserner SPD-Mann, und nun haben sich ein paar Bonzen wie die Kapitalisten in die eigenen Tasche gewirtschaftet. Man weiß schon gar nicht mehr, woran man ist. Höchste Zeit , dass der Schmidt da mal mit dem eisernen Besen aufräumt. Zutrauen kann man ihm das schon, aber er wird jetzt von allen Seiten so oft angegriffen, dass er den ganzen Kram womöglich eines Tages hinschmeißt. Und wo sitzen wir da?“

(Arno Vincent Jacobi

In: Deutschland –Traum oder Wirklichkeit. Auswanderer erzählen. Herausgegeben von Peter E. Nasarski, 1978 Westkreuz- Verlag, Berlin – Bonn)

Aufgabe 3. Berichten Sie schriftlich über die Lage in Deutshland, wobei Sie die Informationen in den texten D 6-2 und T 6-2 vergleichen.

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