Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann.

Erzählung

Personen und Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlich­keiten mit den Praktiken der >Bild<-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern un­vermeidlich.

1.

Für den folgenden Bericht gibt es einige Neben- und drei Hauptquellen, die hier am Anfang einmal genannt, dann aber nicht mehr erwähnt werden. Die Hauptquellen: Verneh­mungsprotokolle der Polizeibehörde, Rechtsanwalt Dr. Hu­bert Blorna, sowie dessen Schul- und Studienfreund, der Staatsanwalt Peter Hach, der - vertraulich, versteht sich - die Vernehmungsprotokolle, gewisse Maßnahmen der Untersu­chungsbehörde und Ergebnisse von Recherchen, soweit sie nicht in den Protokollen auftauchten, ergänzte; nicht, wie unbedingt hinzugefügt werden muß, zu offiziellem, lediglich zu privatem Gebrauch, da ihm der Kummer seines Freundes Blorna, der sich das alles nicht erklären konnte und es doch »wenn ich es recht bedenke, nicht unerklärlich, sogar fast logisch« fand, regelrecht zu Herzen ging. Da der Fall der Katharina Blum angesichts der Haltung der Angeklagten und der sehr schwierigen Position ihres Verteidigers Dr. Blorna ohnehin mehr oder weniger fiktiv bleiben wird, sind vielleicht gewisse kleine, sehr menschliche Unkorrektheiten, wie Hach sie beging, nicht nur verständlich, auch verzeihlich. Die Ne­benquellen, einige von größerer, andere von geringerer Be­deutung, brauchen hier nicht erwähnt zu werden, da sich ihre Verstrickung, Verwicklung, Befaßtheit, Befangenheit, Be­troffenheit und Aussage aus dem Bericht selbst ergeben.

2.

Wenn der Bericht - da hier so viel von Quellen geredet wird -hin und wieder als »fließend« empfunden wird, so wird dafür um Verzeihung gebeten: es war unvermeidlich. Angesichts von »Quellen« und »Fließen« kann man nicht von Komposi­tion sprechen, so sollte man vielleicht statt dessen den Begriff der Zusammenführung (als Fremdwort dafür wird Konduk­tion vorgeschlagen) einführen, und dieser Begriff sollte jedem einleuchten, der je als Kind (oder gar Erwachsener) in, an und mit Pfützen gespielt hat, die er anzapfte, durch Kanäle mitein­ander verband, leerte, ablenkte, umlenkte, bis er schließlich das gesamte, ihm zur Verfügung stehende Pfützenwasserpo-tential in einem Sammelkanal zusammenführte, um es auf ein niedrigeres Niveau ab-, möglicherweise gar ordnungsgemäß oder ordentlich, regelrecht in eine behördlicherseits erstellte Abflußrinne oder in einen Kanal zu lenken. Es wird also nichts weiter vorgenommen als eine Art Dränage oder Trok-kenlegung. Ein ausgesprochener Ordnungsvorgang! Wenn also diese Erzählung stellenweise in Fluß kommt, wobei Ni­veauunterschiede und -ausgleiche eine Rolle spielen, so wird um Nachsicht gebeten, denn schließlich gibt es auch Stockun­gen, Stauungen, Versandungen, mißglückte Konduktionen und Quellen, die »zusammen nicht kommen können«, außer­dem unterirdische Strömungen usw. usw.

3.

Die Tatsachen, die man vielleicht zunächst einmal darbieten sollte, sind brutal: am Mittwoch, dem 20. 2. 1974, am Vor­abend von Weiberfastnacht, verläßt in einer Stadt eine junge Frau von siebenundzwanzig Jahren abends gegen 18.45 Uhr ihre Wohnung, um an einem privaten Tanzvergnügen teilzu­nehmen.

Vier Tage später, nach einer - man muß es wirklich so ausdrücken (es wird hiermit auf die notwendigen Niveauun­terschiede verwiesen, die den Fluß ermöglichen) - dramati­schen Entwicklung, am Sonntagabend um fast die gleiche Zeit - genauer gesagt gegen 19.04 -, klingelt sie an der Wohnungs­tür des Kriminaloberkommissars Walter Moeding, der eben dabei ist, sich aus dienstlichen, nicht privaten Gründen als Scheich zu verkleiden, und gibt dem erschrockenen Moeding zu Protokoll, sie habe mittags gegen 12.15 in ihrer Wohnung den Journalisten Werner Tötges erschossen, er möge veran­lassen, daß ihre Wohnungstür aufgebrochen und er dort »ab­geholt« werde; sie selbst habe sich zwischen 12.15 und 19.00 Uhr in der Stadt umhergetrieben, um Reue zu finden, habe aber keine Reue gefunden; sie bitte außerdem um ihre Verhaf­tung, sie möchte gern dort sein, wo auch ihr »lieber Ludwig« sei.

Moeding, der die junge Person von verschiedenen Verneh­mungen her kennt und eine gewisse Sympathie für sie empfin­det, zweifelt nicht einen Augenblick lang an ihren Angaben, er bringt sie in seinem Privatwagen zum Polizeipräsidium, verständigt seinen Vorgesetzten Kriminalhauptkommissar Beizmenne, läßt die junge Frau in eine Zelle verbringen, trifft sich eine Viertelstunde später mit Beizmenne vor ihrer Woh­nungstür, wo ein entsprechend ausgebildetes Kommando die Tür aufbricht und die Angaben der jungen Frau bestätigt findet.

Es soll hier nicht so viel von Blut gesprochen werden, denn nur notwendige Niveauunterschiede sollen als unvermeidlich gelten, und deshalb wird hiermit aufs Fernsehen und aufs Kino verwiesen, auf Grusi- und Musicals einschlägiger Art; wenn hier etwas fließen soll, dann nicht Blut. Vielleicht sollte man lediglich auf gewisse Farbeffekte hinweisen: der erschos­sene Tötges trug ein improvisiertes Scheichkostüm, das aus einem schon recht verschlissenen Bettuch zurechtgeschnei-dert war, und jedermann weiß doch, was viel rotes Blut auf viel Weiß anrichten kann; da wird eine Pistole notwendiger­weise fast zur Spritzpistole, und da es sich im Falle des Ko­stüms ja um Leinwand handelt, liegen hier moderne Malerei und Bühnenbild näher als Dränage. Gut. Das sind also die Fakten.

4.

Ob auch der Bildjournalist Adolf Schönner, den man erst am Aschermittwoch in einem Waldstück westlich der fröhlichen Stadt ebenfalls erschossen fand, ein Opfer der Blum gewesen war, galt eine Zeitlang als nicht unwahrscheinlich, später aber, als man eine gewisse chronologische Ordnung in den Ablauf gebracht hatte, als »erwiesen unzutreffend«. Ein Taxi­fahrer sagte später aus, er habe den ebenfalls als Scheich ver­kleideten Schönner mit einer als Andalusierin verkleideten jungen Frauensperson zu eben jenem Waldstück gefahren. Nun war aber Tötges schon am Sonntagmittag erschossen worden, Schönner aber erst am Dienstagmittag. Obwohl man bald herausfand, daß die Tatwaffe, die man neben Tötges fand, keinesfalls die Waffe sein konnte, mit der Schönner getötet worden war, blieb der Verdacht für einige Stunden auf der Blum ruhen, und zwar des Motivs wegen. Wenn sie schon Grund gehabt hatte, sich an Tötges zu rächen, so hatte sie mindestens soviel Grund gehabt, sich an Schönner zu rächen. Daß die Blum aber zwei Waffen besessen haben könnte, erschien den ermittelnden Behörden dann doch als sehr un­wahrscheinlich. Die Blum war bei ihrer Bluttat mit einer kalten Klugheit zu Werke gegangen; als man sie später fragte, ob sie auch Schönner erschossen habe, gab sie eine ominöse, als Frage verkleidete Antwort: »Ja, warum eigentlich nicht den auch?« Dann aber verzichtete man darauf, sie auch des Mordes an Schönner zu verdächtigen, zumal Alibirecherchen sie fast eindeutig entlasteten. Keiner, der Katharina Blum kannte oder im Laufe der Untersuchung ihren Charakter kennenlernte, zweifelte daran, daß sie, falls sie ihn begangen hätte, den Mord an Schönner eindeutig zugegeben hätte. Der Taxifahrer, der das Pärchen zum Waldstück gefahren hatte (»Ich würde es ja eher als verwildertes Gebüsch bezeichnen«, sagte er), erkannte jedenfalls die Blum auf Fotos nicht. »Mein Gott«, sagte er, »diese hübschen braunhaarigen jungen Din­ger zwischen 1,63 und 1,68 groß, schlank und zwischen 24 und 27 Jahre alt - davon laufen doch Karneval Hunderttau­sende hier herum.«

In der Wohnung des Schönner fand man keinerlei Spuren von der Blum, keinerlei Hinweis auf die Andalusierin. Kolle­gen und Bekannte des Schönner wußten nur, daß er am Dienstag gegen Mittag von einer Kneipe aus, in der sich Journalisten trafen, »mit irgendeiner Brumme abgehauen war«.

5.

Ein hoher Karnevalsfunktionär, Weinhändler und Sektver­treter, der sich rühmen konnte, den Humor wiederaufgebaut zu haben, zeigte sich erleichtert, daß beide Taten erst am Montag bzw. Mittwoch bekanntgeworden waren. »So was am Anfang der frohen Tage, und Stimmung und Geschäft sind hin. Wenn herauskommt, daß Verkleidungen zu krimi-nellen Taten mißbraucht werden, ist die Stimmung sofort hin das Geschäft versaut. Das sind echte Sakrilege. Ausgelas-leit und Frohsinn brauchen Vertrauen, das ist ihre Basis.«

6.

Ziemlich merkwürdig verhielt sich die ZEITUNG, nachdem die beiden Morde an ihren Journalisten bekannt wurden. Irrsinnige Aufregung! Schlagzeilen. Titelblätter. Sonderaus­gaben. Todesanzeigen überdimensionalen Ausmaßes. Als ob - wenn schon auf der Welt geschossen wird - der Mord an einem Journalisten etwas Besonderes wäre, wichtiger etwa als der Mord an einem Bankdirektor, -angestellten oder -räuber. Diese Tatsache der Uber-Aufmerksamkeit der Presse muß hier vermerkt werden, weil nicht nur die ZEITUNG, auch andere Zeitungen tatsächlich den Mord an einem Journalisten als etwas besonders Schlimmes, Schreckliches, fast Feierli­ches, man könnte fast sagen wie einen Ritualmord behandel­ten. Es wurde sogar von »Opfer seines Berufes« gesprochen, und natürlich hielt die ZEITUNG selbst hartnäckig an der Version fest, auch Schönner wäre ein Opfer der Blum, und wenn man auch zugeben muß, daß Tötges wahrscheinlich nicht erschossen worden wäre, wäre er nicht Journalist ge­worden (sondern etwa Schuhmacher oder Bäcker), so hätte man doch herauszufinden versuchen sollen, ob man nicht besser von beruflich bedingtem Tod hätte sprechen müssen, denn es wird ja noch geklärt werden, warum eine so kluge und fast kühle Person wie die Blum den Mord nicht nur plante, auch ausführte und im entscheidenden, von ihr herbeigeführ­ten Augenblick nicht nur zur Pistole griff, sondern diese auch in Tätigkeit setzte.

7.

Gehen wir von diesem äußerst niedrigen Niveau sofort wie­der auf höhere Ebenen. Weg mit dem Blut. Vergessen sein soll die Aufregung der Presse. Die Wohnung der Katharina Blum ist inzwischen gesäubert, die unbrauchbar gewordenen Tep­piche sind auf dem Abfall gelandet, die Möbel abgewischt und zurechtgerückt, das alles auf Kosten und Veranlassung von Dr. Blorna, der sich dazu durch seinen Freund Hach bevoll­mächtigen ließ, wenn auch noch lange nicht sicher ist, daß Blorna der Vermögensverwalter sein wird.

Immerhin hat diese Katharina Blum innerhalb von fünf Jahren in eine Eigentumswohnung im Wert von insgesamt einhunderttausend Mark sechzigtausend bar investiert, es gibt da also - wie ihr Bruder, der zur Zeit eine geringfügige Freiheitsstrafte abbüßt - es ausdrückte, was »Handfestes ab­zustauben«. Aber wer käme dann für die Zinsen und die Amortisation der restlichen vierzigtausend Mark auf, und wenn man auch eine nicht unerhebliche Wertsteigerung ein­kalkulieren muß. Es bleiben nicht nur Akt- auch Passiva.

Tötges immerhin ist längst beerdigt (mit einem unange­messenen Aufwand, wie manche Leute festgestellt haben). Schönners Tod und Beerdigung sind merkwürdigerweise nicht mit solcher Aufmachung und Aufmerksamkeit betrie­ben und bemerkt worden. Warum wohl? Weil er kein »Opfer seines Berufes« war, sondern wahrscheinlicher das Opfer eines Eifersuchtsdramas ? Das Scheichkostüm ist in der Asservatenkammer, auch die Pistole (eine 08), über deren Herkunft nur Blorna Bescheid weiß, während Polizei und Staatsanwalt­schaft sich vergeblich bemüht haben, dies herauszufinden.

8.

Die Recherchen über die Aktivitäten der Blum während der fraglichen vier Tage ließen sich für die ersten Tage gut an, stockten erst, als es den Sonntag zu erkunden galt.

Blorna selbst hatte Katharina Blum am Mittwochnachmit­tag zwei volle Wochenlöhne in Höhe von je 280 DM ausge­zahlt, einen für die laufende Woche, den zweiten für die folgende Woche, da er selbst am Mittwochnachmittag mit seiner Frau in den Winterurlaub fuhr. Katharina hatte den Blornas nicht nur versprochen, sondern geradezu geschwo­ren, daß sie endlich einmal Urlaub machen und sich über Karneval amüsieren wolle und nicht, wie in all den Jahren davor, ins Saisongeschäft gehen würde. Sie hatte den Blornas freudig mitgeteilt, daß sie für den Abend zu einem privaten kleinen Haus ball bei ihrer Patentante, Freundin und Vertrau­ten Else Woltersheim eingeladen sei und sich sehr darauf freue, sie habe so lange keine Gelegenheit mehr gehabt, zu tanzen. Daraufhin habe Frau Dr. Blorna zu ihr gesagt: »Warte nur, Kathrinchen, wenn wir zurück sind, geben wir mal wieder 'ne Party, dann kannst du auch wieder tanzen.« Seitdem sie in der Stadt war, seit fünf oder sechs Jahren, hatte Katharina sich immer wieder über die nicht vorhandenen Möglichkeiten, »mal einfach irgendwo tanzen zu gehen«, beklagt. Da gab es, wie sie Blornas erzählte, diese Buden, in denen eigentlich nur verklemmte Studenten eine kostenlose Nutte suchen, dann gab es diese bohemeartigen Dinger, in denen es ihr ebenfalls zu wüst zuging, und konfessionelle Tanzveranstaltungen verabscheute sie geradezu.

Am Mittwochnachmittag hatte Katharina, wie sich leicht ermitteln ließ, noch zwei Stunden bei dem Ehepaar Hiepertz gearbeitet, wo sie gelegentlich und auf Anfrage aushalf. Da die Hiepertz ebenfalls die Stadt während der Karnevalstage verließen und zu ihrer Tochter nach Lemgo fuhren, hatte Katharina die beiden alten Herrschaften noch in ihrem Volks­wagen zum Bahnhof gebracht. Trotz erheblicher Park­schwierigkeiten hatte sie darauf bestanden, sie auch noch auf den Bahnsteig zu bringen und ihr Gepäck zu tragen. (»Nicht ums Geld, nein, für solche Gefälligkeiten dürfen wir ihr gar nichts anbieten, das würde sie tief kränken«, erläuterte Frau Hiepertz.) Der Zug war nachweislich um 17.30 Uhr gefahren. Wenn man Katharina fünf bis zehn Minuten zubilligen wollte, um inmitten des beginnenden Karnevalsrummels ih­ren Wagen zu finden, weitere zwanzig oder gar fünfund­zwanzig Minuten, um ihre außerhalb der Stadt in einem Wohnpark gelegene Wohnung zu erreichen, die sie also erst zwischen 18.00 und 18.15 Uhr betreten haben konnte, so blieb keine Minute ungedeckt, wenn man ihr gerechterweise zubilligen mochte, daß sie sich gewaschen, umgezogen, eine Kleinigkeit gegessen hatte, denn sie war schon gegen 19.25 Uhr bei Frau Woltersheim zur Party erschienen, nicht per Auto, sondern per Straßenbahn, und sie war weder als Bedui­nenfrau noch als Andalusierin verkleidet, sondern lediglich mit einer roten Nelke im Haar, in roten Strümpfen und Schuhen, in einer hochgeschlossenen Bluse aus honigfarbener Honanseide und einem gewöhnlichen Tweedrock von glei­cher Farbe. Man mag es gleichgültig finden, ob Katharina mit ihrem Auto oder mit der Straßenbahn zur Party fuhr, es muß hier erwähnt werden, weil es im Laufe der Ermittlungen von erheblicher Bedeutung war.

9.

Von dem Augenblick an, da sie die Woltersheimsche Woh­nung betrat, wurden die Ermittlungen erleichtert, weil Ka­tharina von 19.25 Uhr an, ohne es zu ahnen, unter polizeili­cher Beobachtung stand. Den ganzen Abend über, von 19.30 bis 22.00 Uhr, bevor sie mit diesem die Wohnung verließ, hatte sie »ausschließlich und innig«, wie sie selber später aussagte, mit einem gewissen Ludwig Götten getanzt.

10.

Man sollte hier nicht vergessen, dem Staatsanwalt Peter Hach Dankbarkeit zu zollen, denn ihm einzig und allein verdankt man die an justizinternen Klatsch grenzende Mitteilung, daß Kriminalkommissar Erwin Beizmenne von dem Augenblick an, da die Blum mit Götten die Wohnung der Woltersheim verließ, die Telefone der Woltersheim und der Blum abhören ließ. Das geschah auf eine Weise, die man vielleicht der Mit­teilung für wert halten mag. Beizmenne rief in solchen Fällen den dafür zuständigen Vorgesetzten an und sagte zu diesem: »Ich brauche mal wieder meine Zäpfchen. Diesmal zwei.«

11.

Offenbar hat Götten von Katharinas Wohnung aus nicht telefoniert. Jedenfalls wußte Hach nichts davon. Sicher ist, daß die Wohnung von Katharina streng überwacht wurde, und als bis 10.30 Uhr am Donnerstagmorgen weder telefo niert worden war, noch Götten die Wohnung verlassen hatte, drang man, da Beizmenne die Geduld und auch die Nerven zu verlieren begann, mit acht schwerbewaffneten Polizeibeam­ten in die Wohnung ein, stürmte sie regelrecht unter streng­sten Vorsichtsmaßregeln, durchsuchte sie, fand aber Götten nicht mehr, lediglich die »äußerst entspannt, fast glücklich wirkende« Katharina, die an ihrer Küchenanrichte stand, wo sie aus einem großen Becher Kaffee trank und in eine mit Butter und Honig bestrichene Scheibe Weißbrot biß. Sie machte sich insofern verdächtig, als sie nicht überrascht, sondern gelassen, »wenn nicht triumphierend« wirkte. Sie trug einen Bademantel aus grüner Baumwolle, der mit Mar-gueriten bestickt war, war darunter unbekleidet, und als sie von Kommissar Beizmenne (»ziemlich barsch«, wie sie später erzählte) gefragt wurde, wo Götten geblieben sei, sagte sie, sie wisse nicht, wann Ludwig die Wohnung verlassen habe. Sie sei gegen 9.30 Uhr wach geworden, und da sei er schon weg gewesen. »Ohne Abschied?« »Ja.«

12.

An dieser Stelle sollte man etwas über eine höchst umstrittene Frage von Beizmenne erfahren, die Hach einmal zum besten gab, widerrief, dann noch einmal erzählte und zum zweiten­mal widerrief. Blorna hält diese Frage für wichtig, weil er glaubt, daß, wenn sie wirklich gestellt worden sei, hier und nirgendwo anders der Beginn von Katharinas Verbitterung, Beschämung und Wut gelegen haben könnte. Da Blorna und seine Frau Katharina Blum als in sexuellen Dingen äußerst empfindlich, fast prüde schildern, muß die Möglichkeit, Beizmenne könnte - ebenfalls in höchster Wut über den entschwundenen Götten, den er sicher zu haben glaubte-die umstrittene Frage gestellt haben, hier erwogen werden. Beiz-menne soll die aufreizend gelassen an ihrer Anrichte lehnende Katharina nämlich gefragt haben: »Hat er dich denn gefickt«, woraufhin Katharina sowohl rot geworden sein wie in stol­zem Triumph gesagt haben soll: »Nein, ich würde es nicht so nennen.«

Man kann getrost annehmen, daß, wenn Beizmenne diese Frage gestellt hat, von diesem Augenblick an keinerlei Ver­trauen mehr zwischen ihm und Katharina entstehen konnte. Die Tatsache, daß es tatsächlich nicht zu einem Vertrauens­verhältnis zwischen den beiden kam - obwohl Beizmenne, der als »gar nicht so übel« gilt, es nachweislich versuchte -, sollte aber nicht als endgültiger Beweis dafür angesehen wer­den, daß er die ominöse Frage wirklich gestellt hat. Hach jedenfalls, der bei der Haussuchung zugegen war, gilt unter Bekannten und Freunden als »Sexklemmer«, und es wäre durchaus möglich, daß ihm selbst ein so grober Gedanke gekommen ist, als er die äußerst attraktive Blum da so nach­lässig an ihrer Anrichte lehnen sah, und daß er diese Frage gern gestellt oder die so grob definierte Tätigkeit gern mit ihr ausgeübt hätte.

ausgeübt hätte.

13.

Die Wohnung wurde anschließend gründlich durchsucht, es wurden einige Gegenstände beschlagnahmt, vor allem Schriftliches. Katharina Blum durfte sich im Badezimmer in Gegenwart der weiblichen Beamtin Pletzer anziehen. Doch durfte die Badezimmertür nicht ganz geschlossen werden; sie wurde von zwei bewaffneten Beamten schärfstens bewacht. es wurde Katharina gestattet, ihre Handtasche mitzunehmen, nd da ihre Verhaftung nicht ausgeschlossen werden konnte, durfte sie Nachtzeug, einen Toilettenbeutel, Lektüre mitneh­men. Ihre Bibliothek bestand aus vier Liebesromanen, drei Kriminalromanen sowie aus einer Napoleonbiographie und einer Biographie der Königin Christina von Schweden. Sämt­liche Bücher stammten aus einem Buchklub. Da sie dauernd fragte »Aber wieso, wieso denn, was habe ich denn verbro­chen«, wurde ihr schließlich von der Kriminalbeamtin Pletzer in höflicher Form mitgeteilt, daß Ludwig Götten ein lange gesuchter Bandit sei, des Bankraubes fast überführt und des Mordes und anderer Verbrechen verdächtig.

14.

Als Katharina Blum endlich gegen 11.00 Uhr aus ihrer Woh­nung fort und zur Vernehmung geführt wurde, verzichtete man letzten Endes doch darauf, ihr Handschellen anzulegen. Beizmenne neigte zwar dazu, auf Handschellen zu bestehen, ließ sich aber nach einem kurzen Dialog zwischen der Beam­tin Pletzer und seinem Assistenten Moeding herbei, darauf zu verzichten. Da wegen der an diesem Tag beginnenden Wei­berfastnacht zahlreiche Hausbewohner nicht zur Arbeit ge­gangen und noch nicht zu den alljährlich fälligen saturnalien-artigen Umzügen, Festen etc. aufgebrochen waren, standen etwa drei Dutzend Bewohner des zehnstöckigen Apparte­menthauses in Mänteln, Morgenröcken und Bademänteln im Foyer, und der Pressefotograf Schönner stand wenige Schritte vor dem Aufzug, als Katharina Blum, zwischen Beiz­menne und Moeding, von bewaffneten Polizeibeamten flan­iert, den Aufzug verließ. Sie wurde von vorne, von hinten, von der Seite mehrmals fotografiert, zuletzt, da sie in ihrer Scham und Verwirrung mehrmals ihr Gesicht zu verdecken versuchte und dabei mit ihrer Handtasche, dem Toilettenbeu­tel und einer Plastiktüte, in der zwei Bücher und Schreibzeug waren, in Konflikt geriet, mit zerwühltem Haar und recht

unfreundlichem Gesichtsausdruck.

15.

Eine halbe Stunde später, nachdem sie auf ihre Rechte hinge wiesen worden und ihr Gelegenheit gegeben worden war sich wieder etwas herzurichten, begann in Gegenwart vor Beizmenne, Moeding, der Frau Pletzer sowie der Staatsan-wälte Dr. Korten und Hach die Vernehmung, die protokol­liert wurde: »Mein Name ist Katharina Brettloh, geb. Blum. Ich wurde am z. März 1947 in Gemmelsbroich im Landkreis Kuir geboren. Mein Vater war der Bergarbeiter Peter Blum. Er starb, als ich sechs Jahre alt war, im Alter von siebenund­dreißig Jahren an einer Lungenverletzung, die er im Krieg erlitten hatte. Mein Vater hatte nach dem Krieg wieder in einem Schieferbergwerk gearbeitet und war auch staublun­genverdächtig. Meine Mutter hatte nach seinem Tode Schwierigkeiten mit der Rente, weil sich das Versorgungsamt und die Knappschaft nicht einigen konnten. Ich mußte schon sehr früh im Haushalt arbeiten, weil mein Vater häufig krank war und entsprechenden Verdienstausfall hatte und meine Mutter verschiedene Putzstellen annahm. In der Schule hatte ich keinerlei Schwierigkeiten, obwohl ich auch während der Schulzeit viel Hausarbeit machen mußte, nicht nur zu Hause, auch bei Nachbarn und anderen Dorfbewohnern, wo ich beim Backen, Kochen, Einmachen, Schlachten zur Hand ging. Ich tat auch viel Hausarbeit und half bei der Ernte. Mit Hilfe meiner Patentante, Frau Else Woltersheim aus Kuir, bekam ich nach der Schulentlassung im Jahre 1961 eine Stelle als Hausgehilfin in der Metzgerei Gerbers in Kuir, wo ich auch beim Verkaufen gelegentlich aushelfen mußte. Von 1962 bis 1965 besuchte ich mit Hilfe und durch finanzielle Unter­stützung meiner Patentante Frau Woltersheim, die dort als Ausbilderin tätig war, eine Hauswirtschaftsschule in Kuir, die ich mit sehr gut absolvierte. Von 1966 bis 1967 arbeitete ich als Wirtschafterin im Ganztagskindergarten der Firma Koeschler im benachbarten Oftersbroich, bekam dann eine Stelle als Hausgehilfin bei dem Arzt Dr. Kluthen, ebenfalls in Oftersbroich, wo ich nur ein Jahr verblieb, weil Herr Doktor immer häufiger zudringlich wurde und Frau Doktor das nicht leiden mochte. Auch ich mochte diese Zudringlichkeiten nicht. Mir war das widerwärtig. Im Jahre 1968, als ich für einige Wochen stellenlos war und im Haushalt meiner Mutter aushalf und gelegentlich bei den Versammlungen und Kegel­abenden des Trommlerkorps Gemmelsbroich aushalf, lernte ich durch meinen älteren Bruder Kurt Blum den Textilarbei­ter Wilhelm Brettloh kennen, den ich wenige Monate später heiratete. Wir wohnten in Gemmelsbroich, wo ich gelegent­lich an den Wochenenden bei starkem Ausflüglerverkehr in der Gastwirtschaft Kloog in der Küche aushalf, manchmal auch als Serviererin. Schon nach einem halben Jahr empfand ich unüberwindliche Abneigung gegen meinen Mann. Nähe­res möchte ich dazu nicht aussagen. Ich verließ meinen Mann und zog in die Stadt. Ich wurde schuldig geschieden wegen böswilligen Verlassens und nahm meinen Mädchennamen wieder an. Ich wohnte zunächst bei Frau Woltersheim, bis ich nach einigen Wochen eine Stelle als Wirtschafterin und Haus­gehilfin im Hause des Wirtschaftsprüfers Dr. Fehnern fand, wo ich auch wohnte. Herr Dr. Fehnern ermöglichte es mir, Abend- und Weiterbildungskurse zu besuchen und eine Fachprüfung als staatlich geprüfte Wirtschaft erin abzulegen. Er war sehr nett und sehr großzügig, und ich blieb auch bei ihm, nachdem ich die Prüfung abgelegt hatte. Ende des Jahres 1969 wurde Herr Dr. Fehnern im Zusammenhang mit erheb­lichen Steuerhinterziehungen, die bei großen Firmen, für die er arbeitete, festgestellt worden waren, verhaftet. Bevor er abgeführt wurde, gab er mir einen Briefumschlag mit drei Monatsgehältern und bat mich, auch weiterhin nach dem Rechten zu sehen, er käme bald wieder, sagte er. Ich blieb noch einen Monat, versorgte seine Angestellten, die unter der Aufsicht von Steuerbeamten in seinem Büro arbeiteten, hielt das Haus sauber und den Garten in Ordnung, kümmerte mich auch um die Wäsche. Ich brachte Herrn Dr. Fehnern immer frische Wäsche ins Untersuchungsgefängnis, auch zu essen, besonders Ardennenpastete, die ich beim Metzger Gerbers in Kuir herzustellen gelernt hatte. Später wurde die Praxis geschlossen, das Haus beschlagnahmt, ich mußte mein Zimmer räumen. Herrn Dr. Fehnern hatte man anscheinend auch Unterschlagung und Fälschung nachgewiesen, und er kam richtig ins Gefängnis, wo ich ihn auch weiterhin besuchte. Ich wollte ihm auch die zwei Monatsgehälter zurückge­ben, die ich ihm noch schuldete. Er verbat sich das regelrecht. Ich fand sehr rasch eine Stelle bei dem Ehepaar Dr. Blorna, die ich durch Herrn Fehnern kennengelernt hatte.

Blornas bewohnen einen Bungalow in der Parksiedlung Südstadt. Obwohl mir dort Wohnung geboten wurde, lehnte ich ab, ich wollte endlich unabhängig sein und meinen Beruf mehr freiberuflich ausüben. Das Ehepaar Blorna war sehr gütig zu mir. Frau Dr. Blorna verhalf mir - sie arbeitet in einem großen Architekturbüro - zu meiner Eigentumswoh­nung in der Satellitenstadt im Süden, die unter dem Motto >Elegant am Strom wohnen< angezeigt wurde, Herr Dr. Blorna war in seiner Eigenschaft als Industrieanwalt, Frau Dr. Blorna in ihrer Eigenschaft als Architektin mit dem Pro-jeklt vertraut. Ich berechnete mit Herrn Dr. Blorna die Finan-

zirung Verzinsung und Amortisation eines Zwei-Zimmer-Küche-Bad-Appartements im 8. Stock, und da ich inzwi­schen Ersparnisse in Höhe von 7000 DM hatte zurücklegen können, und das Ehepaar Blorna für einen Kredit in Höhe von 30000 DM bürgte, konnte ich schon Anfang 1970 in meine Wohnung einziehen. Meine monatliche Mindestbela­stung betrug zu Beginn etwa 1100 DM, da aber das Ehepaar Blorna meine Verpflegung nicht berechnete, Frau Blorna mir sogar noch jeden Tag etwas zum Essen und Trinken zusteck­te, konnte ich sehr sparsam leben und meinen Kredit rascher amortisieren, als anfänglich berechnet war. Ich führe seit vier Jahren die Wirtschaft und den Haushalt dort selbständig, meine Arbeitszeit beginnt um sieben Uhr morgens und endet nachmittags gegen sechzehn Uhr dreißig, wenn ich mit den Haus- und Reinigungsarbeiten, dem Einkaufen, den Vorbe­reitungen für das Abendessen fertig bin. Ich besorge auch die gesamte Wäsche des Haushalts. Zwischen sechzehn Uhr drei­ßig und siebzehn Uhr dreißig kümmere ich mich um meinen eigenen Haushalt und arbeite dann gewöhnlich noch einein­halb bis zwei Stunden bei dem Rentnerehepaar Hiepertz. Samstags- und Sonntagsarbeit bekomme ich bei beiden ge­sondert bezahlt. In meiner freien Zeit arbeite ich gelegentlich beim Traiteur Kloft, oder ich helfe bei Empfängen, Parties, Hochzeiten, Gesellschaften, Bällen, meistens als frei ange­worbene Wirtschafterin auf Pauschale und eigenes Risiko, manchmal auch im Auftrag der Firma Kloft. Ich arbeite in der Kalkulation, der organisatorischen Planung, gelegentlich auch als Köchin oder Serviererin. Meine Bruttoeinnahmen betragen im Durchschnitt 1800 bis 2300 Mark im Monat. Dem Finanzamt gegenüber gelte ich als freiberuflich. Ich zahle meine Steuern und Versicherungen selbst. Alle diese Dinge ... Steuererklärung etc. werden kostenlos für mich durch das Büro Blorna erledigt. Seit dem Frühjahr 1972 besit­ze ich einen Volkswagen, Baujahr 1968, den mir der bei der Firma Kloft beschäftigte Koch Werner Klormer günstig überließ. Es wurde für mich zu schwierig, die verschiedenen und auch wechselnden Arbeitsplätze mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Mit dem Auto wurde ich auch beweglich genug, auf Empfängen und bei Festlichkeiten mit­zuarbeiten, die in weiter entfernt liegenden Hotels abgehalten wurden.«

16.

Es dauerte von 11.30 bis 12.30 Uhr, und nach einer Unterbre­chung von einer Stunde, von 13.30 bis 17.45 Uhr, bevor dieser Teil der Vernehmung abgeschlossen war. In der Mittagspause weigerte sich die Blum, Kaffee und Käsebrote von der Poli­zeiverwaltung anzunehmen, und auch das intensive Zureden der ihr offensichtlich wohlwollenden Frau Pletzer und des Assistenten Moeding konnten an ihrer Haltung nichts än­dern. Es war ihr - wie Hach erzählte - offenbar unmöglich, das Dienstliche vom Privaten zu trennen, die Notwendigkeit der Vernehmung einzusehen. Als Beizmenne, der sich Kaffee und Brote schmecken ließ und mit geöffnetem Kragen und gelockerter Krawatte nicht nur väterlich wirkte, sondern wirklich väterlich wurde, bestand die Blum darauf, in ihre Zelle verbracht zu werden. Die beiden Polizeibeamten, die zu ihrer Bewachung abkommandiert waren, bemühten sich nachweislich, ihr Kaffee und Brote anzubieten, aber sie schüt­telte hartnäckig den Kopf, saß auf ihrer Pritsche, rauchte eine Zigarette und äußerte durch Naserümpfen und Ekel bezeugendes Mienenspiel ihren Abscheu vor der noch mit Resten Erbrochenem bekleckerten Toilette in der Zelle. Später stattete sie Frau Pletzer, nachdem diese und die beiden jungen Beamten ihr zugeredet hatten, ihr den Puls zu fühlen, als der Puls sich als normal erwies, ließ sie sich dann auch herab, sich aus einem nahe gelegenen Cafe ein Stück Sandku­chen und eine Tasse Tee holen zu lassen, bestand aber darauf, das aus eigener Tasche zu bezahlen, obwohl einer der jungen Beamten, der am Morgen ihre Badezimmertüre bewacht hatte, während sie sich anzog, bereit war, ihr »einen auszuge­ben«. Das Urteil der beiden Polizeibeamten und der Frau Pletzer über diese Episode mit Katharina Blum: humorlos.

17.

Zwischen 13.30 und 17.45 Uhr wurde die Vernehmung zur Person fortgesetzt, die Beizmenne gern kürzer gehabt hätte, die Blum aber bestand auf Ausführlichkeit, die ihr von den beiden Staatsanwälten zugestanden wurde, schließlich war auch Beizmenne - erst widerwillig, später einsichtigerweise wegen des gelieferten Hintergrundes, der ihm wichtig er­schien - mit der Ausführlichkeit einverstanden.

Gegen 17.45 erhob sich nun die Frage, ob man die Verneh­mung fortsetzen oder unterbrechen, ob man die Blum freilas­sen oder in eine Zelle verbringen solle. Sie hatte sich gegen 17-00 tatsächlich herbeigelassen, noch ein Kännchen Tee zu akzeptieren und ein belegtes Brötchen (Schinken) zu verzeh­ren, und erklärte sich damit einverstanden, die Vernehmung fortzusetzen, da ihr Beizmenne nach Abschluß derselben Freilassung versprach. Es kam nun ihr Verhältnis zu Frau Woltersheim zur Sprache. Sie sei, sagte Katharina Blum, ihre Patentante, habe sich immer schon um sie gekümmert, sei eine entfernte Kusine ihrer Mutter; sie habe, als sie in die Stadt zog, sofort Kontakt mit ihr aufgenommen.

»Am 20. 2. war ich zu diesem Hausball eingeladen, der eigentlich am 21. 2., an Weiberfastnacht, hatte stattfinden sollen, dann aber vorverlegt wurde, weil Frau Woltersheim für Weiberfastnacht berufliche Verpflichtungen übernom­men hatte. Es war das erste Tanzvergnügen, an dem ich seit vier Jahren teilnahm. Ich korrigiere meine Aussage dahinge­hend: verschiedentlich, vielleicht zwei-, drei-, möglicherwei­se viermal habe ich bei Blornas mitgetanzt, wenn ich dort abends bei Gesellschaften aushalf. Zu vorgerückter Stunde, wenn ich mit Aufräumen und Abwaschen fertig war, wenn der Kaffee serviert war und Dr. Blorna die Bar übernommen hatte, holte man mich in den Salon, und ich tanzte dort mit Herrn Dr. Blorna und auch mit anderen Herren aus Akade-miker-, Wirtschafts- und Politikerkreisen. Später bin ich nur 1 noch sehr ungern oder zögernd, dann gar nicht mehr diesen Aufforderungen gefolgt, es kam, da die Herren oft angetrun­ken waren, auch dort zu Zudringlichkeiten. Genauer gesagt: seitdem ich mein eigenes Auto besaß, habe ich diese Auffor­derungen abgelehnt. Vorher war ich davon abhängig, daß einer der Herren mich nach Hause brachte. Auch mit diesem Herrn dort« - - sie zeigte auf Hach, der tatsächlich errötete, »habe ich gelegentlich getanzt.« Die Frage, ob auch Hach zudringlich geworden sei, wurde nicht gestellt.

18.

Die Dauer der Vernehmungen ließ sich daraus erklären, daß Katharina Blum mit erstaunlicher Pedanterie jede einzelne Vormulierung kontrollierte, sich jeden Satz, so wie er ins Protokoll aufgenommen wurde, vorlesen ließ. Z. B. die im letzten Abschnitt erwähnten Zudringlichkeiten waren erst als Zärtlichkeiten ins Protokoll eingegangen bzw. zunächst in der Fassung, »daß die Herren zärtlich wurden«; wogegen sich Katharina Blum empörte und energisch wehrte. Es kam zu regelrechten Definitionskontroversen zwischen ihr und den Staatsanwälten, ihr und Beizmenne, weil Katharina behaup­tete, Zärtlichkeit sei eben eine beiderseitige und Zudringlich­keit eine einseitige Handlung, und um letztere habe es sich immer gehandelt. Als die Herren fanden, das sei doch alles nicht so wichtig und sie sei schuld, wenn die Vernehmung länger dauere, als üblich sei, sagte sie, sie würde kein Proto­koll unterschreiben, in dem statt Zudringlichkeiten Zärtlich­keiten stehe. Der Unterschied sei für sie von entscheidender Bedeutung, und einer der Gründe, warum sie sich von ihrem Mann getrennt habe, hänge damit zusammen; der sei eben nie zärtlich, sondern immer zudringlich gewesen.

Ähnliche Kontroversen hatte es um das Wort »gütig«, auf das Ehepaar Blorna angewandt, gegeben. Im Protokoll stand »nett zu mir«, die Blum bestand auf dem Wort gütig, und als ihr statt dessen gar das Wort gutmütig vorgeschlagen wurde, weil gütig so altmodisch klinge, war sie empört und behaup­tete, Nettigkeit und Gutmütigkeit hätten mit Güte nichts zu tun, als letzteres habe sie die Haltung der Blornas ihr gegen­über empfunden.

19.

Inzwischen waren die Hausbewohner vernommen worden, von denen der größere Teil wenig oder gar nichts über Katharina Blum aussagen konnte; man habe sie gelegentlich im Aufzug getroffen, sich gegrüßt, wisse, daß ihr der rote Volks­wagen gehöre, man habe sie für eine Chefsekretärin gehalten andere für eine Abteilungsleiterin in einem Warenhaus; sie sei immer adrett, freundlich, wenn auch kühl gewesen. Von den Bewohnern der fünf Appartements im achten Stock, in dem Katharinas Wohnung lag, konnten nur zwei Näheres mittei­len. Die eine war die Inhaberin eines Frisiersalons, Frau I Schmill, der andere war ein pensionierter Beamter vom Elek­trizitätswerk namens Ruhwiedel, und das Verblüffende war die beiden Aussagen gemeinsame Behauptung, Katharina habe hin und wieder Herrenbesuch empfangen oder mitge- bracht. Frau Schmill behauptete, der Besuch sei regelmäßig gekommen, so alle zwei, drei Wochen, und es sei ein etwa vierzigjähriger, sehr elastisch wirkender Herr aus »offen- sichtlich besseren« Kreisen gewesen, während Herr Ruhwie- del den Besucher als ziemlich jungen Schlacks bezeichnete, der einige Male allein, einige Male mit Fräulein Blum gemein-sam deren Wohnung betreten habe. Und zwar innerhalb der vergangenen zwei Jahre etwa acht- bis neunmal, »und das sind nur die Besuche, die ich beobachtet habe - über die, die ich nicht beobachtet habe, kann ich natürlich nichts sagen«. Als Katharina am späten Nachmittag mit diesen Aussagen konfrontiert und aufgefordert wurde, dazu Stellung zu neh­men, war es Hach, der ihr, noch bevor er die Frage formulier­te, entgegenzukommen versuchte und ihr nahelegte, ob diese Herrenbesuche etwa die Herren gewesen wären, die sie gele­gentlich nach Hause gebracht hätten. Katharina, die über und über rot geworden war, aus Scham und aus Ärger, fragte spitz zurück, ob es etwa verboten sei, Herrenbesuche zu empfan­gen, und da sie die aus Freundlichkeit von ihm gebaute Brücke nicht betreten wollte oder gar nicht als solche erkann­te, wurde auch Hach etwas spitzer und sagte, sie müsse sich klar darüber werden, daß man hier einen sehr ernsten Fall untersuche, nämlich den Fall Ludwig Götten, der weitverzweigt sei und Polizei und Staatsanwaltschaften schon über ein Jahr beschäftige, und er frage sie hiermit, ob es sich bei dem Herrenbesuch, den sie offenbar nicht ableugne, immer um ein und denselben Herrn gehandelt habe. Und hier nun griff Beizmenne brutal zu und sagte »Sie kennen den Götten also schon zwei Jahre«.

Über diese Feststellung war Katharina so verblüfft, daß sie keine Antwort fand, Beizmenne nur kopfschüttelnd anblick­te und als sie dann ein erstaunlich mildes »Aber nein, nein, ich habe ihn erst gestern kennengelernt« herausstotterte, wirkte das nicht sehr überzeugend. Da sie nun aufgefordert wurde, den Herrenbesuch zu identifizieren, schüttelte sie »fast entsetzt« den Kopf und verweigerte darüber die Aussa­ge. Nun wurde Beizmenne wieder väterlich und redete ihr zu, sagte, es sei doch gar nichts Schlimmes, wenn sie einen Freund habe, der - und hier machte er einen entscheidenden psycho­logischen Fehler - nicht zudringlich, sondern vielleicht zärt­lich zu ihr gewesen sei; sie sei ja geschieden und nicht mehr zur Treue verpflichtet, und es sei nicht einmal - der dritte entscheidende Fehler! - verwerflich, wenn da möglicherweise bei unzudringlichen Zärtlichkeiten gewisse materielle Vortei­le heraussprängen. Und damit war Katharina Blum endgültig verbockt. Sie verweigerte weiterhin die Aussage und bestand darauf, in eine Zelle oder nach Hause verbracht zu werden. Zur Verblüffung aller Anwesenden erklärte Beizmenne, müde und müde - es war inzwischen 20.40 Uhr geworden-, er lasse sie durch einen Beamten nach Hause bringen. Dann aber als sie schon aufgestanden war und ihre Handtasche, den Toilettenbeutel und die Plastiktüte zusammenraffte, fragte er sie ganz plötzlich und hart: »Wie ist er bloß diese Nacht aus dem Haus herausgekommen, Ihr zärtlicher Ludwig? Alle Eingänge, alle Ausgänge waren bewacht- Sie, Sie müssen einen Weg gewußt und ihn ihm geyeigt haben, und ich werde es herausbekommen. Auf Wiedersehen.»

20.

Moeding, Beizmennes Assistent, der Katharina nach Hau; fuhr, berichtete später, er sei über den Zustand der jungen Frau sehr beunruhigt und fürchte, daß sie sich etwas antun könne; sie sei völlig zerschmettert, fix und fertig, und habe überraschenderweise ausgerechnet in diesem Zustand Hu­mor gezeigt oder erst entwickelt. Als er mit ihr durch die Stadt gefahren sei, habe er sie scherzhaft gefragt, ob es nicht doch nett wäre, wenn man jetzt unbefangen und ohne Hinter­gedanken irgendwo einen trinken und zusammen tanzen ge­hen könne, und sie habe genickt und gesagt, das wäre nicht übel, vielleicht sogar nett, und später vor ihrem Haus, als er ihr angeboten habe, sie nach oben bis vor ihre Türe zu brin­gen, habe sie sarkastisch gesagt »Ach, besser nicht, ich habe Herrenbesuch genug, wie Sie wissen - aber trotzdem danke.« Moeding versuchte den ganzen Abend und die halbe Nacht über, Beizmenne davon zu überzeugen, daß man Katharina Blum inhaftieren müsse, zu ihrem eigenen Schutz, und als Beizmenne ihn fragte, ob er etwa verliebt sei, sagte er, nein, er habe sie nur gern, und sie sei gleichaltrig mit ihm, und er glaube nicht an Beizmennes Theorie von einer großen Ver­schwörung, in die Katharina verwickelt sei.

Was er nicht berichtete und was doch durch Frau Wolters­heim Blorna bekannt wurde, waren die beiden Ratschläge, die er Katharina gab, die er immerhin durchs Foyer bis an den Aufzug begleitete, ziemlich heikle Ratschläge, die ihn hätten teuer zu stehen kommen können, und außerdem für ihn und seine Kollegen lebensgefährlich; er sagte nämlich zu Katharina als sie vor dem Aufzug standen: »Lassen Sie die Finger vom Telefon und schlagen Sie morgen keine Zeitung auf«, wobei nicht klar war, ob er dieZEITUNG meinte oder Zeitungen schlechthin.

21.

Es war etwa gegen 15.30 Uhr des nämlichen Tages (Donners­tag, dem 21.2. 74), als Blorna sich in seinem Urlaubsort zum erstenmal die Skier anschnallte und zu einer längeren Wande­rung aufbrechen wollte. Von diesem Augenblick an war sein Urlaub, auf den er sich so lange gefreut hatte, vermasselt. Schön gewesen war der lange Abendspaziergang am Abend vorher, kurz nach der Ankunft, mit Trude zwei Stunden lang durch den Schnee, dann die Flasche Wein am brennenden Kamin und der tiefe Schlaf bei offenem Fenster; das erste Frühstück im Urlaub, lang hinausgezogen, und noch einmal für ein paar Stunden dick eingewickelt auf der Terrasse im Korbstuhl, und dann eben, genau in dem Augenblick, als er loswandern wollte, war dieser Kerl von der ZEITUNG auf­getaucht und hatte ihn, ohne jede Vorbereitung, auf Kathari­na angequatscht. Ob ersie eines Verbrechens für fähig halte? »Wieso«, sagte er, »ich bin Anwalt und ich weiß, wer alles eines Verbrechens fähig ist. Welches Verbrechendenn? Ka­tharina? Undenkbar, wie kommen Sie darauf? Woher wissen Sie?« Als er schließlich erfuhr, daß ein lange gesuchter Bandit nachweislich bei Katharina übernachtet habe und sie seit ungefähr 11Uhr früh streng vernommen werde, hatte er vorgehabt, sofort zurückzufliegen und ihr beizustehen, aber der Kerl von der ZEITUNG - sah er wirklich so schmierig aus, oder fand er das erst später? - sagte, so schlimm sei es nun wieder nicht, und ob er ihm nicht ein paar Charaktereigen­schaften nennen könne. Und als er sich weigerte, meinte der Kerl, das sei aber ein schlechtes Zeichen und könne bös mißdeutet werden, denn Schweigen über ihren Charakter sei in einem solchen Fall, und es handele sich um eine »front-pa-ge-story«, eindeutig ein Hinweis auf einen schlechten Cha­rakter, und schon wütend und sehr gereizt sagte Blorna: »Katharina ist eine sehr kluge und kühle Person« und ärgerte sich, weil auch das nicht stimmte und nicht andeutungsweise ausdrückte, was er hatte sagen wollen und hätte sagen müs­sen. Er hatte noch nie mit Zeitungen und schon gar nicht mit der ZEITUNG zu tun gehabt, und als der Kerl in seinem Porsche wieder abfuhr, schnallte Blorna die Skier wieder ab und wußte, daß der Urlaub hinüber war. Er ging zu Trude hinauf, die in Decken gehüllt wohlig, halb schlafend auf dem Balkon in der Sonne lag. Er erzählte es ihr. »Ruf doch mal an«, sagte sie, und er versuchte anzurufen, dreimal, viermal, fünfmal, aber er bekam immer die Auskunft »Teilnehmer meldet sich nicht«. Er versuchte gegen elf abends noch einmal anzurufen, aber wieder meldete sich niemand. Er trank viel und schlief schlecht.

22.

Als er Freitag früh gegen halb zehn mürrisch zum Frühstück erschien, hielt Trude ihm schon die ZEITUNG entgegen. Katharina auf der Titelseite. Riesenfoto, Riesenlettern. RÄU~ BERLIEBCHEN KATHARINA BLUM VERWEIGERT AUSSAGE ÜBER HERRENBESUCHE. Der seiteinein halb Jahren gesuchte Bandit und Mörder Ludwig Götten hätte gestern verhaftet werden können, hätte nicht seine Ge­liebte, die Hausangestellte Katharina Blum, seine Spuren ver­wischt und seine Flucht gedeckt. Die Polizei vermutet, daß die Blum schon seit längerer Zeit in die Verschwörung verwickelt ist. (Weiteres siehe auf der Rückseite unter dem Titel: HER­RENBESUCHE.)

Dort auf der Rückseite las er dann, daß die ZEITUNG aus seiner Äußerung, Katharina sei klug und kühl, »eiskalt und berechnend« gemacht hatte und aus seiner generellen Äuße­rung über Kriminalität, daß sie »durchaus eines Verbrechens fähig sei«.

Der Pfarrer von Gemmelbroich hatte ausgesagt: »Der traue ich alles zu. Der Vater war ein verkappter Kommunist und ihre Mutter, die ich aus Barmherzigkeit eine Zeitlang als Putzhilfe beschäftigte, hat Meßwein gestohlen und in der Sakristei mit ihren Liebhabern Orgien gefeiert.«

»Die Blum erhielt seit zwei Jahren regelmäßig Herrenbe­such. War ihre Wohnung ein Konspirationszentrum, ein Ban­dentreff , ein Waffenumschlagplatz? Wie kam die erst sieben-undzwanzigjährige Hausangestellte an eine Eigentumswoh­nung im Werte von schätzungsweise 110000 Mark f War sie an der Beute aus den Bankrauben beteiligt? Polizei ermittelt weiter. Staatsanwaltschaft arbeitet auf Hochtouren. Morgen mehr. DIE ZEITUNG BLEIBT WIEIMMER AM BALL!Sämtliche Hintergrundinformationen in der morgigen Wo­chenendausgabe»

Am Nachmittag auf dem Flugplatz rekonstruierte Blorna, was dann kurz hintereinander geschehen war.

10.25 Anruf des sehr aufgeregten Lüding, der mich be­schwor, sofort zurückzukommen und mit dem ebenfalls sehr aufgeregten Alois in Verbindung zu treten. Alois, angeblich total aufgelöst - was ich bei ihm noch nie erlebt habe, mir deshalb unwahrscheinlich vorkommt -, zur Zeit auf einei Tagung für christliche Unternehmer in Bad Bedelig, wo er das Hauptreferat halten und die Grundsatzdiskussion leiten muß.

10.40 Anruf von Katharina, die mich fragte, ob ich das wirklich so gesagt hätte, wie es in der ZEITUNG stand. Froh darüber, sie aufklären zu können, erklärte ich ihr den Zusam­menhang, und sie sagte (aus dem Gedächtnis protokolliert) etwa folgendes: »Ich glaub's Ihnen, ich glaub's, ich weiß ja jetzt, wie diese Schweine arbeiten. Heute morgen haben sie sogar meine schwerkranke Mutter, Brettloh und andere Leute aufgestöbert.« Als ich sie fragte, wo sie sei, sagte sie »Bei Else, und jetzt muß ich wieder zur Vernehmung«.

11.00 Anruf von Alois, den ich wirklich zum erstenmal im Leben - und ich kenne ihn seit 20 Jahren - aufgeregt und in Angst sah. Sagte, ich müsse sofort zurückkommen, um ihn als Mandanten in einer sehr heiklen Sache zu übernehmen. Er müsse jetzt sein Referat halten, dann mit den Unternehmern essen, später die Diskussion leiten und abends an einem zwanglosen Beisammensein teilnehmen, könne aber so zwi­schen 7,5 und 9,5 bei uns zu Hause sein, später dann noch zu dem zwanglosen Beisammensein stoßen.

11.30 Trude findet auch, daß wir sofort abreisen und Katharina, beistehen müssen. Wie ich ihrem ironischen Lä­cheln entnehme, hat sie bereits eine (wahrscheinlich, wie immer) zutreffende Theorie über Alois' Schwierigkeiten.

12.15 Buchungen erledigt, gepackt, Rechnung bezahlt. Nach knapp 40Stündigem Urlaub im Taxi nach I. Dort auf dem Flugplatz 14.00 bis 15.00 Uhr im Nebel gewartet. Langes Gespräch mit Trude über Katharina, an der ich, wie Trude weiß, sehr, sehr hänge. Sprachen auch darüber, wie wir Ka­tharina ermuntert hatten, nicht so zimperlich zu sein, ihre unglückselige Kindheit und die vermurkste Ehe zu vergessen. Wie wir versucht haben, ihren Stolz, wenn es um Geld geht, zu überwinden und ihr von unserem eigenen Konto einen billigeren Kredit als den der Bank zu geben. Selbst die Erklä­rung und die Einsicht, daß sie uns, wenn sie uns statt der 14%, die sie zahlen muß, 9% gibt, nicht einmal einen Verlust bereitet, sie aber viel Geld spart, hatte sie nicht überzeugt. Wie wir Katharina zu Dank verpflichtet sind: seit sie ruhig und freundlich, auch planvoll unseren Haushalt leitet, sind nicht nur unsere Unkosten erheblich gesunken, sie hat uns auch beide für unsere berufliche Arbeit so frei gemacht, daß wir es kaum in Geld ausdrücken können. Sie hat uns von dem fünfjährigen Chaos befreit, das unsere Ehe und unsere be­rufliche Arbeit so belastet hat.

Entschließen uns gegen 16.30 Uhr, da der Nebel sich nicht zu lichten scheint, doch mit dem Zug zu fahren. Auf Rat von Trude rufe ich Alois Sträubleder nicht an. Taxi zum Bahnhof, wo wir den 17.45 nach Frankfurt noch erwischen. Elende Fahrt - Übelkeit, Nervosität. Sogar Trude ernst und erregt. Sie wittert großes Unheil. Total erschöpft dann doch in Mün­chen umgestiegen, wo wir einen Schlafwagen erwischten. Erwarten beide Kummer mit und um Katharina, Ärger mit Lüding und Sträubleder.

23.

Schon am Samstagmorgen am Bahnhof der Stadt, die immer noch saisongemäß fröhlich war, völlig zerknittert und elend, schon auf dem Bahnsteig des Bahnhofs die ZEITUNG und wieder mit Katharina auf dem Titel, diesmal, wie sie in Beglei­tung eines Kriminalbeamten in Zivil die Treppe des Präsi­diums herunterkam. MORDERBRAUT IMMER NOCH VERSTOCKT! KEIN HINWEIS AUF GÖTTENS VER­BLEIB! POLIZEI IN GROSSALARM.

Trade kaufte das Ding, und sie fuhren schweigend im Taxi nach Hause, und als er den Fahrer bezahlte, während Trade die Haustür aufschloß, wies der Fahrer auf die ZEITUNG und sagte: »Sie sind auch drin, ich hab' Sie gleich erkannt. Sie sind doch der Anwalt und Arbeitgeber von diesem Nütt-chen.« Er gab viel zuviel Trinkgeld, und der Fahrer, dessen Grinsen gar nicht so schadenfroh war wie seine Stimme klang, brachte ihm Koffer, Taschen und Skier noch bis in die Diele und sagte freundlich »Tschüs«.

Trude hatte schon die Kaffeemaschine eingestöpselt und wusch sich im Bad. Die ZEITUNG lag im Salon auf dem Tisch und zwei Telegramme, eins von Lüding, das andere von Sträubleder. Von Lüding: »Sind gelinde gesagt enttäuscht, weil kein Kontakt. Lüding.« Von Sträubleder: »Kann nicht begreifen, daß Du mich so im Stich läßt. Erwarte sofort Anruf. Alois.«

Es war gerade acht Uhr fünfzehn und fast genau die Zeit, zu der ihnen sonst Katharina das Frühstück servierte: hübsch, wie sie immer den Tisch deckte, mit Blumen und frisch gewa­schenen Tüchern und Servietten, vielerlei Brot und Honig, Eiern und Kaffee und für Trude Toast und Orangenmarme­lade.

Sogar Trade war fast sentimental, als sie die Kaffeema­schine, ein bißchen Knäckebrot, Honig und Butter brachte. »Es wird nie mehr so sein, nie mehr. Sie machen das Mädchen fertig. Wenn nicht die Polizei, dann die ZEITUNG, und wenn die ZEITUNG die Lust an ihr verliert, dann machen's die Leute. Komm, lies das jetzt erst mal und dann erst ruf die Herrenbesucher an.« Er las:

»Der ZEITUNG, stets bemüht, Sie umfassend zu infor­mieren, ist es gelungen, weitere Aussagen zu sammeln, die den Charakter der Blum und ihre undurchsichtige Vergangenheit beleuchten. Es gelang ZEITUNGS-Reportern, die schwer­kranke Mutter der Blum ausfindig zu machen. Sie beklagte sich zunächst darüber, daß ihre Tochter sie seit langer Zeit nicht mehr besucht hat. Dann, mit den unumstößlichen Fak­ten konfrontiert, sagte sie: >So mußte es ja kommen, so mußte es ja enden.< Der ehemalige Ehemann, der biedere Textilarbeiter Wilhelm Brettloh, von dem die Blum wegen böswilli­gen Verlassens schuldig geschieden ist, gab der ZEITUNG noch bereitwilliger Auskunft. >Jetzt<, sagte er, die Tränen mühsam zurückhaltend, >weiß ich endlich, warum sie mir tritschen gegangen ist. Warum sie mich sitzengelassen hat. DAS war's also, was da lief. Nun wird mir alles klar. Unser bescheidenes Glück genügte ihr nicht. Sie wollte hoch hinaus, und wie soll schon ein redlicher, bescheidener Arbeiter je zu einem Porsche kommen. Vielleicht (fügte erweise hinzu) kön­nen Sie den Lesern der ZEITUNG meinen Rat übermitteln: So müssen falsche Vorstellungen von Sozialismus ja enden. Ich frage Sie und Ihre Leser: Wie kommt ein Dienstmädchen an solche Reichtümer. Ehrlich erworben kann sie's ja nicht ha­ben. Jetzt weiß ich, warum ich ihre Radikalität und Kirchen­feindlichkeit immer gefürchtet habe, und ich segne den Ent­schluß unseres Herrgotts, uns keine Kinder zu schenken. Und wenn ich dann noch erfahre, daß ihr die Zärtlichkeiten eines Mörders und Räubers lieber waren als meine unkomplizierte Zuneigung, dann ist auch dieses Kapitel geklärt. Und dennoch möchte ich ihr zurufen: meine kleine Katharina, wärst du doch bei mir geblieben. Auch wir hätten es im Laufe der Jahre zu Eigentum und einem Kleinwagen gebracht, einen Porsche hätte ich dir wohl nie bieten können, nur ein bescheidenes Glück, wie es ein redlicher Arbeitsmann zu bieten hat, der der Gewerkschaft mißtraut. Ach, Katharinas «

Unter der Überschrift: »Rentnerehepaar ist entsetzt, aber nicht überrascht«, fand Blorna noch auf der letzten Seite eine rot angestrichene Spalte:

Der pensionierte Studiendirektor Dr. Berthold Hiepertz und Frau Erna Hiepertz zeigten sich entsetzt über die Aktivi­täten der Blum, aber nicht »sonderlich überrascht«. In Lemgo, wo eine Mitarbeiterin der ZEITUNG sie bei ihrer verheirateten Tochter, die dort ein Sanatorium leitet, aufsuch­te, äußerte der Altphilologe und Historiker Hiepertz, bei dem die Blum seit 3 Jahren arbeitet: »Eine in jeder Beziehung radikale Person, die uns geschickt getäuscht hat.»

(Hiepertz, mit dem Blorna später telefonierte, schwor, folgendes gesagt zu haben: »Wenn Katharina radikal ist, dann ist sie radikal hilfsbereit, planvoll und intelligent - ich müßte mich schon sehr in ihr getäuscht haben, und ich habe eine vierzigjährige Erfahrung als Pädagoge hinter mir und habe mich selten getäuscht.«) Fortsetzung von Seite 1:

»Der völlig gebrochene ehemalige Ehemann der Blum, den die ZEITUNG anläßlich einer Probe des Trommler- und Pfeiferkorps Gemmelsbroich aufsuchte, wandte sich ab, um seine Tränen zu verbergen. Auch die übrigen Vereinsmitglie­der wandten sich, wie Altbauer Meffels es ausdrückte, mit Grausen von Katharina ab, die immer so seltsam gewesen sei und immer so prüde getan habe. Die harmlosen Karnevals­freuden eines redlichen Arbeiters jedenfalls dürften getrübt sein.«

Schließlich ein Foto von Blorna und Trude, im Garten am Swimming-pool. Unterschrift: »Welche Rolle spielt die Frau, die einmal als die >rote Trude< bekannt war, und ihr Mann, der sich gelegentlich als >links< bezeichnet. Hochbezahlter Indu­strieanwalt Dr. Blorna mit Frau Trude vor dem Swimming­pool der Luxusvilla.«

24.

Hier muß eine Art Rückstau vorgenommen werden, etwas, das man im Film und in der Literatur Rückblende nennt: vom Samstagmorgen, an dem das Ehepaar Blorna zerknittert und ziemlich verzweifelt aus dem Urlaub zurückkam, auf den Freitagmorgen, an dem Katharina erneut zum Verhör aufs Präsidium geholt wurde; diesmal durch Frau Pletzer und einen älteren Beamten, der nur leicht bewaffnet war, und nicht aus ihrer eigenen Wohnung wurde sie geholt, sondern aus der Wohnung der Frau Woltersheim, zu der Katharina morgens gegen fünf Uhr, diesmal mit ihrem Auto, gefahren war. Die Beamtin machte kein Hehl daraus, daß ihr bekannt war, sie würde Katharina nicht zu Hause, sondern bei der Woltersheim finden. (Gerechterweise sollte man nicht ver­gessen, die Opfer und Strapazen des Ehepaars Blorna noch einmal ins Gedächtnis zu rufen: Abbruch des Urlaubs, Taxi­fahrt zum Flugplatz in I. Warten im Nebel. Taxi zum Bahn­hof. Zug nach Frankfurt, dann aber Umsteigen in München. Im Schlafwagen elend geschüttelt, und am frühen Morgen, soeben zu Hause angekommen, schon mit der ZEITUNG konfrontiert! Später - zu spät natürlich - bereute Blorna, daß er nicht statt Katharina, von der er ja durch den ZEITUNGS-Kerl wußte, daß sie vernommen wurde, Hach angerufen hatte.)

Was allen, die an der zweiten Vernehmung von Katharina am Freitag teilnahmen - wiederum Moeding, die Pletzer, die Staatsanwälte Dr. Korten und Hach, die Protokollführerin Anna Lockster, die die sprachliche Sensibilität der Blum als lästig empfand und als »affig« bezeichnete-, was allen auffiel, war Beizmennes geradezu strahlende Laune. Er betrat hände­reibend den Verhandlungsraum, behandelte Katharina gera­dezu zuvorkommend, entschuldigte sich für »gewisse Grob heiten«, die nicht seinem Amt, sondern seiner Person ent­sprächen, er sei nun einmal ein etwas ungeschliffener Kerl, und nahm zunächst die inzwischen erstellte Liste der be­schlagnahmten Gegenstände vor; es handelte sich um:

1. Ein kleines, abgenutztes grünes Notizbuch kleinen For­mats, das ausschließlich Telefonnummern enthielt, die inzwi­schen überprüft worden waren und keinerlei Verfänglichkeiten ergeben hatten. Offenbar benutzte Katharina Blum dieses Notizbuch schon seit fast zehn Jahren. Ein Schriftsachver­ständiger, der nach schriftlichen Spuren von Götten gesucht hatte (Götten war u. a. Bundeswehrdeserteur und hatte in einem Büro gearbeitet, also viele handschriftliche Spuren hinterlassen), hatte die Entwicklung ihrer Handschrift als gerade schulbeispielhaft bezeichnet. Das sechzehnjährige Mädchen, das die Telefonnummer des Metzgers Gerbers notiert hatte, die Siebzehnjährige, die die Nummer des Arztes Dr. Kluthen, die Zwanzigjährige bei Dr. Fehnern - und später die Num­mern und Adressen von Traiteuren, Restaurateuren, Kollegen.

2. Kontoauszüge der Sparkasse, auf denen jede Um- oder Abbuchung durch handschriftliche Randnotizen der Blum genau identifiziert waren. Einzahlungen, Abbuchungen -alles korrekt und keine der bewegten Summen verdächtig. Dasselbe traf auf ihre Buchführung zu und auf Notizen und Mitteilungen, die in einem kleinen Hefter enthalten waren, wo sie den Stand ihrer Verpflichtungen gegenüber der Firma »Haftex« gebucht hatte, von der sie ihre Eigentumswohnung in »Elegant am Strom wohnen« erworben hatte. Auch ihre Steuererklärungen, Steuerbescheide, Steuerzahlungen waren genauestens geprüft und durch einen Bilanzfachmann durch­gesehen worden, der nirgendwo eine »versteckte größere Summe« hatte ausfindig machen können. Beizmenne hatte Wert darauf gelegt, ihre finanziellen Transaktionen beson ders im Zeitraum der letzten zwei Jahre, die er scherzhaft als »Herrenbesuchszeit« bezeichnete, zu prüfen. Nichts. Es er­gab sich immerhin, daß Katharina ihrer Mutter monatlich 150 DM überwies, daß sie das Grab ihres Vaters in Gemmels-broich durch ein Abonnement der Firma Kolter in Kuir pflegen ließ. Ihre Möbelanschaffungen, Hausgeräte, Kleider, Unterwäsche, Benzinrechnungen, alles geprüft und nir­gendwo eine Lücke entdeckt. Der Buchhaltungsfachmann hatte, als er Beizmenne die Akten zurückgab, gesagt: »Mensch, wenn die freikommt und sucht mal 'ne Stelle - gib mir 'nen Tip. So was sucht man ständig und findet es nicht.« Auch die Telefonrechnungen der Blum ergaben keine Ver­dachtsmomente. Offenbar hatte sie Ferngespräche kaum geführt.

Bemerkt worden war auch, daß Katharina Blum ihrem Bruder Kurt, der zur Zeit wegen Einbruchdiebstahls einsaß, gelegentlich kleinere Summen zwischen 15 und 30 DM zur Aufbesserung seines Taschengeldes überwies.

Kirchensteuer zahlte die Blum nicht. Sie war, wie aus ihren Finanzakten ersichtlich, schon als Neunzehnjährige im Jahre 1966 aus der kath. Kirche ausgetreten.

3. Ein weiteres kleines Notizbuch mit verschiedenen Ein­tragungen, hauptsächlich rechnerischer Art, enthielt vier Ru­briken: Eine für den Haushalt Blorna mit Ab- und Zusam­menrechnungen über Lebensmitteleinkäufe und Auslagen für Putzmittel, Reinigungsanstalten, Wäschereien. Dabei wurde festgestellt, daß Katharina die Wäsche eigenhändig bügelte. Die zweite für den Haushalt Hiepertz mit entsprechenden Angaben und Berechnungen.

Eine weitere für den eigenen Haushalt der Blum, den diese offenbar mit geringen Mitteln bestritt; es fanden sich Monate, in denen sie etwa für Lebensmittel kaum 30-50 DM ausgege­ben hatte. Sie schien allerdings - Fernsehen hatte sie nicht - öfters ins Kino zu gehen und sich hin und wieder Schokolade, sogar Pralinen zu kaufen.

Die vierte Rubrik enthielt Einnahmen und Ausgaben, die mit den Extrabeschäftigungen der Blum zusammenhingen, betrafen Anschaffungs- und Reinigungskosten für Berufs­kleidung, anteilige Unkosten für den Volkswagen. Hier - bei den Benzinrechnungen - hakte Beizmenne mit einer Freund­lichkeit, die alle überraschte, ein und fragte sie, woher die relativ hohen Benzinkosten kämen, die übrigens mit der auf­fallend hohen Ziffer zusammenhingen, die ihr Kilometerzäh­ler aufweise. Man habe festgestellt, daß die Entfernung zu Blorna hin und zurück etwa 6, die Entfernung zu Hiepertz hin und zurück etwa 8, zu Frau Woltersheim etwa 4 km betrage, und wenn man im Durchschnitt, was großzügig berechnet sei, eine Extrabeschäftigung wö

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