Er fragte immer: «Wo ist denn nur unser Gretchen so lange?», und sie antwortete alle Tage: «Ach Gott, das arme Kind studiert wieder einmal.»

4 Ich hatte damals, wie heute, kein Verständnis dafür, dass ein Mensch gerne studiert und sich dadurch vom Kaffeetrinken oder irgend etwas anderem abhalten lassen kann. Dennoch machte es einen großen Eindruck auf mich, obwohl ich dies nie eingestand.

5 Wir sprachen im Gymnasium öfters von Gretchen Vollbeck, und ich verteidigte sie nie, wenn einer erklärte, sie sei eine ekelhafte Gans, die sich bloß gescheit mache.

6 Auch daheim äußerte ich mich einmal wegwerfend über dieses weibliche Wesen, das wahrscheinlich keinen Strumpf stricken könne und sich den Kopf mit allem möglichen Zeug vollpfropfe.

7 Meine Mutter unterbrach mich aber mit der Bemerkung, sie würde Gott danken, wenn ein gewisser Jemand nur halb so fleißig wäre wie dieses talentierte Mädchen, das seinen Eltern nur Freude bereite und sicherlich nie so schmachvolle Schulzeugnisse heimbringe.

8 Ich hasste persönliche Anspielungen und vermied es daher, das Gespräch auf dieses unangenehme Thema zu bringen.

9 Dagegen übte meine Mutter nicht die gleiche Rücksicht, und ich wurde häufig aufgefordert, mir an Gretchen Vollbeck ein Beispiel zu nehmen.

10 Ich tat es nicht und brachte an Ostern ein Zeugnis heim, welches selbst den nächsten Verwandten nicht gezeigt werden konnte.

11 Man drohte mir, dass ich nächster Tage zu einem Schuster in die Lehre gegeben würde, und als ich gegen dieses ehrbare Handwerk keine Abneigung zeigte, erwuchsen mir sogar daraus heftige Vorwürfe.

12 Es folgten recht unerquickliche Tage, und jedermann im Hause war bemüht, mich so zu behandeln, dass in mir keine rechte Festesfreude aufkommen konnte.

13 Schließlich sagte meine Mutter, sie sehe nur noch ein Mittel, mich auf bessere Wege zu bringen, und dies sei der Umgang mit Gretchen.

14 Vielleicht gelinge es dem Mädchen, günstig auf mich einzuwirken. Herr Rat Vollbeck habe seine Zustimmung erteilt, und ich solle mich bereit halten, den Nachmittag mit ihr hinüberzugehen.

15 Die Sache war mir unangenehm. Man verkehrt als Lateinschüler nicht so gerne mit Mädchen wie später, und außerdem hatte ich begründete Furcht, dass gewisse Gegensätze zu stark hervorgehoben würden.

Aber da half nun einmal nichts, ich musste mit.

17 Vollbecks saßen gerade beim Kaffee, als wir kamen. Gretchen fehlte, und Frau Rat sagte gleich: «Ach Gott, das Mädchen studiert schon wieder, und noch dazu Scheologie.» Meine Mutter nickte so nachdenklich und ernst mit dem Kopfe, dass mir wirklich ein Stich durchs Herz ging und der Gedanke in mir auftauchte, der lieben alten Frau doch auch einmal eine Freude zu machen. Der Herr Rat trommelte mit den Fingern auf den Tisch und zog die Augenbrauen furchtbar in die Höhe.

18 Dann sagte er: «Ja, ja, die Scheologie!»

19 Jetzt glaubte meine Mutter, dass es Zeit sei, mich ein bisschen in das Licht zu rücken, und sie fragte mich aufmunternd: «Habt ihr das auch in eurer Klasse?»

20 Frau Rat Vollbeck lächelte über die Zumutung, dass anderer Leute Kinder derartiges lernten, und ihr Mann sah mich durchbohrend an; das ärgerte mich so stark, dass ich beschloss, ihnen eines zu geben.

21 «Es heißt gar nicht Scheologie, sondern Geologie, und das braucht man nicht zu lernen», sagte ich.

22 Beinahe hätte mich diese Bemerkung gereut, als ich die große Verlegenheit meiner Mutter sah; sie mochte sich wohl sehr über mich schämen, und sie hatte Tränen in den Augen, als Herr Vollbeck sie mit einem recht schmerzlichen Mitleid ansah.

23 Der alte Esel schnitt eine Menge Grimassen, von denen jede bedeuten sollte, dass er sehr trübe in meine Zukunft sehe.

24 «Du scheinst der Ansicht zu sein», sagte er zu mir, «dass man sehr vieles nicht lernen muss. Dein Osterzeugnis soll ja nicht ganz zur Zufriedenheit deiner beklagenswerten Frau Mutter ausgefallen sein. Übrigens konnte man zu meiner Zeit auch Scheologie sagen.»

25 Ich war durch diese Worte nicht so vernichtet, wie Herr Vollbeck annahm, aber ich war doch froh, dass Gretchen ankam. Sie wurde von ihren Eltern stürmisch begrüßt, ganz anders wie sonst, wenn ich von meinem Fenster aus zusah. Sie wollten meiner Mutter zeigen, eine wie große Freude die Eltern gutgearteter Kinder genießen.

26 Da saß nun dieses langbeinige, magere Frauenzimmer, das mit seinen sechzehn Jahren so wichtig und altklug die Nase in die Luft hielt, als hätte es nie mit einer Puppe gespielt.

Nun, bist du fertig geworden mit der Scheologie?» fragte Mama Vollbeck und sah mich herausfordernd an, ob ich es vielleicht wagte, in Gegenwart der Tochter den wissenschaftlichen Streit mit der Familie Vollbeck fortzusetzen.

28 «Nein, ich habe heute Abend noch einige Kapitel zu erledigen; die Materie ist sehr anregend», antwortete Gretchen. Sie sagte das so gleichgültig, als wenn sie Professor darin wäre.

29 «Noch einige Kapitel?» wiederholte Frau Rat, und ihr Mann erklärte mit einer von Hohn durchtränkten Stimme: «Es ist eben doch eine Wissenschaft, die scheinbar gelernt werden muss.»

30 Gretchen nickte nur zustimmend, da sie zwei handgroße Butterbrote im Munde hatte, und es trat eine Pause ein, während welcher meine Mutter halb bewundernd auf das merkwürdige Mädchen und bald kummervoll auf mich blickte.

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